In Kassel wird eine imponierend gelungene Interimsspielstätte für die Oper mit Verdis „Aida“ eröffnet – bei Florian Lutz als Kreuzfahrt.
Nicht dass, aber wo diese „Aida“ stattfand, grenzt an ein Wunder. Das Kassler Opernhaus am Friedrichsplatz muß technisch so gründlich überholt werden, dass es dafür geschlossen werden muss. Das wusste Florian Lutz schon, als er sein Amt als Intendant antrat. 2023 wurde es ernst. So weit, so üblich und misslich für die Theaterleute und ihr Publikum. Was dann aber passierte, klingt schon ein bisschen wie ein Märchen.
Die notorisch klammen und unentschiedene Politik, eine genetisch auf zig fache Absicherung geeichte Verwaltung und Bürokratie, überforderte Baubetriebe und eine ja sowieso immer am Rande des Nervenzusammenbruchs agierende Künstlerschar ließen sich alle zusammen auf das Abenteuer ein, in weniger als zwei Jahren ein Interimsopernhaus zu errichten. Vornehmen kann man sich in Deutschland bekanntlich viel. Und die Politiker, die was beschließen, sind längst in Pension, wenn das Vorhaben fertig ist. Oder aufgegeben wird.
Wer in diesem Zusammenhang Köln sagt, denkt an die Oper. Wer Berlin sagt, an den Flughafen; wer Frankfurt oder Düsseldorf sagt, an die Oper (hatten wir schon); wer Stuttgart sagt, längst nicht nur an den Bahnhof, sondern auch dort an die Oper. Deutschland halt. Wenn der Oberbürgermeister von Kassel jetzt zur pünktlichen Eröffnung von einer Glanzleistung der demokratischen Gesellschaft, einem gegen alle Widrigkeiten erreichten „Yes, we can“ sprach, dann hat er im speziellen Fall Kassel recht. Auf die ganze Republik bezogen aber ist dieses imponierend innovative Interims-Opernhaus eine rühmliche Ausnahme! Sollte die Sanierung des regulären Hauses abgeschlossen sein, kann man den Interims-Bau sogar weiterverkaufen. Mehr Nachhaltigkeit geht gar nicht.
Dass das Interim auf einem ehemaligen Kasernengelände steht, das damit der Reaktivierung vorerst entzogen ist und das Stadtsäckel dank der ansässigen Rüstungsunternehmen von der Aufrüstung profitieren dürfte, sei als dialektische Fußnote angefügt.
Der klar strukturierte 25 mal 50 Meter messende Saal bietet Platz für bis zu 850 Zuschauer. Die traditionelle Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum existiert hier nicht. Es gibt unter anderem einen abdeckbaren Orchestergraben. Dazu eine Schwerlasten-Drehscheibe, auf der (wie bei der Eröffnungspremiere) die Zuschauertribüne platziert werden und rotieren kann. Dazu kommen ein großzügiges Foyer und separate Container für den Backstagebereich.
Die Eröffnungsinszenierung war natürlich Chefsache des Intendanten Florian Lutz, seines Hausszenografen Sebastian Hannak und des gerade neubestallten GMD Ainārs Rubiķis. Sie erlaubten sich zur Feier des Tages den Kalauer, Verdis „Aida“ als Kreuzfahrt auf der Aida in See stechen zu lassen.
Dass die allgemeine Großwetterlage heute eher von aufziehendem Sturm, als von ruhigen Fahrwassern bestimmt wird, wird in dieser Inszenierung glasklar. Allein die Videos (von Konrad Kästner), die den Sturm auf die Parlamente nach dem Modell der Erstürmung des Kapitols in Washington, als Vision für Deutschland und Europa wie ein Menetekel vor den sterilen, himmelblauen Hintergrund malen; die Militärparade und die martialische Fliegerstaffel, die übers Brandenburger Tor Richtung Osten fliegt; aber auch die beängstigend modellhaft propagierte europäische Musterfamilie oder Viktor Orbán und Björn Höcke, die sich beim Bad in der Menge bejubeln lassen, wirken in der gestochenen Schärfe der Bilder (und ihrer Botschaft!) beängstigend. Ähnlich ist es mit der Spaltung der Gesellschaft, die auch die Passagiere dieser Aida-Kreuzfahrt am Ende zerreißt. Man kann es allzu direkt finden, wenn die eine Hälfte der Passagiere mit einem Transparent zur Enteignung der Milliardäre aufruft und die andere zur Säuberungen des Straßenbildes. Aber man weiss, was gemeint ist. Ägypten ist es jedenfalls nicht. Abgesehen davon, dass es ein Kanzlerlapsus wohl noch nie so schnell, quasi in Echtzeit, in eine Inszenierung geschafft hat.
Für die szenische Vergegenwärtigung, die ein Markenzeichen von Florian Lutz ist, sorgt schon Hannak mit seiner An-Bord-Anmutung. In den vier umlaufenden Galerien sitzt man in der ersten Reihe und an der Reling. Auf der einen Seite des Orchestergrabens auf Liegestühlen, sozusagen an Deck. Gegenüber an Tischen wie beim Dinner. Die Mehrheit der Zuschauer ist auf der anderen Seite des Orchestergrabens auf der Tribüne platziert. Wenn die sich dreht, mit einer Blickerweiterung auf die Bildschirme an der Seite (also mit Meerblick). Überhaupt kommt die Architektur dieses Hause fast auf ganzem Weg entgegen, ist das Haus selbst doch ein naher Verwandter der Raumbühnen. Dazu kommt die Überschreibung der Protagonisten durch zeitgenössisches Politikerpersonal. Da wird Radamès (Gabriele Mangione) zu Wolodomyr Selenskyi, die Priesterin zu Ursula von der Leyen, der König zum Kapitän und Bundespräsidenten, der besiegte Amonasro zu Wladimir Putin und Ramfis zu Donald Trump. Nur das Zimmermädchen Aida (Ilaria Alida Quilico) und die Porschefahrerin Amneris bleiben vor allem Rivalinnen um die Liebe von Radamès. Die Inszenierung endet mit einer Katastrophe Europas. Das neue Opernhaus hingegen kommt durch alle Untiefen der Jungfernfahrt sicher ans Ziel.