Fünfunddreißig Jahre ist es her, das große Wahljahr 1990. Wir, also die aus der DDR stammenden Bürger, konnten gleich vier Mal unsere Stimme abgeben. „Das also ist Demokratie, jede Stimme zählt gleich viel“, dachten wir. Allgemein, gleich, unmittelbar, geheim und frei von Beeinflussung durch starke Mächte. Mir ist noch die Rede meiner Mutter im Ohr, die ihre Enttäuschung über die Wahl am 15. Oktober 1950 zur DDR-Volkskammer in folgende Worte gefasst hatte: „Ich dachte, jetzt können wir uns frei entscheiden zwischen den verschiedenen Parteien und dann traten sie alle gemeinsam an, auf einer gemeinsamen Liste und man konnte nur noch zustimmen!“ 1990 konnten wir also wirklich wählen, und ich schätze diese Möglichkeit immer noch, auch wenn ich nicht selten meine Stimme einer Oppositionspartei gegeben habe, die dann nicht gesiegt hat. Die Möglichkeit, auf die Regierenden Druck auszuüben ist doch gegeben. Ihre Macht ist durch uns, durch den Willen der Wähler, beschränkt. Jedenfalls wenn die Wahlen jene fünf Eigenschaften aufweisen, die oben genannt worden sind.
Demokratie, repräsentative parlamentarische, das ist einer jener „westlichen Werte“, von denen häufig bei Politikern und in den Medien die Rede ist. Die EU hält diese Fahne hoch, sie flattert über unseren Köpfen im Wind. In den Jahren seit jenem historischen Wahljahr, dem 41. Jahr der DDR, haben sich durch die Beobachtung von Wahlprozessen bei mir bei mir allerdings Fragen ergeben sowie die Erkenntnis, dass es neben der Wertedemokratie auch jene empirisch beobachtbare gibt, die man als die reale oder praktische Demokratie“ bezeichnen könnte. Am deutlichsten innerhalb der EU zeigte sich diese Differenz bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen in Rumänien. Desgleichen trugen die kürzlichen Parlamentswahlen in Moldau Anzeichen eines Auseinanderfallens von Werte- und praktischer Demokratie.
Im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen in Rumänien am 24. November 2024 siegte ein Kandidat, der nicht vorgesehen war – der parteiunabhängige Kandidat Călin Georgescu. Er lag mit 23 Prozent der Stimmen vier Prozent vor der Zweitplatzierten Elena Lasconi, der Kandidatin der liberalen Partei USR – einer Partei, die vor allem gegen die Korruption im Land auftritt. Knapp dahinter auf dem dritten Platz lag der Kandidat der Sozialdemokraten, der als Ministerpräsident amtierende Marcel Ciolacu. Da niemand die absolute Mehrheit der Stimmen erhalten hatte, wurde ein zweiter Wahlgang angesetzt. Bald schon tönte es in den rumänischen Medien, Georgescu sei ein pro-russischer (also nichtwestlicher) Kandidat. Seine Wahl verdanke er einer von Russland bezahlten Kampagne in der Sozialen Medien, unter anderem bei TikTok. In hiesigen Medien ertönte diese Melodie ebenfalls.
Georgescu bestritt die Behauptung, er habe die TikTok-Kampagne bezahlt oder dafür Geld aus dem Ausland bekommen. Das rumänische Verfassungsgericht annullierte im Dezember des Jahres den Wahlgang und ordnete eine Wiederholung der Wahl wegen ausländischer Einmischung an. Im Februar verbot die Wahlkommission die Teilnahme des Siegers des ersten Durchgangs an der Wiederholungswahl. Und das Verfassungsgericht wies die Klage Georgescus dagegen ab.
War diese politisch-juristische Intervention eine Notoperation, die die Verfälschung des Wählerwillens durch Russland verhinderte, oder war sie selbst eine Manipulation des Wählerwillens? Wurde also die Demokratie in Rumänien gerettet oder aber amputiert?
Die Venedig-Kommission des Europarates stellte auf Antrag von Andrej Hunko vom BSW fest, dass die Annullierung einer stattgefundenen Wahl nur in extremen Ausnahmefällen möglich wäre, aber im vorliegenden Fall zu kritisieren sei, weil die Entscheidung des Verfassungsgerichtes ohne Anhörung der Betroffenen, vielmehr nur unter Berücksichtigung von nicht öffentlichen Geheimdienstinformationen stattgefunden habe.
Eine Untersuchung investigativer Journalisten ergab, dass Georgescu tatsächlich durch eine TikTok-Kampagne unterstützt worden war. Allerdings wurde diese Kampagne nicht aus Russland, sondern von der rumänischen Partei PNL (die den damals amtierenden Präsidenten Johannis stellte) mit öffentlichen Geldern finanziert. Dieses auf den ersten Blick absurde Verhalten wird verständlich, wenn man die Motivation der betreffenden Partei versteht, welche durch Unterstützung des scheinbaren Außenseiters Georgescu verhindern wollte, dass der aus ihrer Sicht stärkste Anwärter auf den Präsidentschaftsposten, der Sozialdemokrat Ciolacu, in die zweite Runde kommt, was ja auch erreicht wurde. Und es ist auch nicht unnütz zu wissen, dass die Richter des Verfassungsgerichtes, die Georgescus Wahlsieg annullierten, mehrheitlich mit den Sozialdemokraten sympathisieren.
Nun könnte man natürlich sagen: Die Demokratie in Rumänien ist deshalb schwach, weil es sich um ein post-diktatorisches Regime handelt. Ceaușescu ist schuld! Oder man könnte darauf verweisen, dass Rumänien ein Land mit verbreiteter Korruption im politischen System ist …
Mir geht es allerdings nicht um diese Interpretation der Ereignisse. Mich interessiert hier, warum deutsche Medien diese Deutungen der Ereignisse in Rumänien – als Einmischung Russlands – bereitwillig übernommen haben. Sie fielen offenbar auf den fruchtbaren Boden unbeirrbar russophober Glaubenssätze. Ebenso wie die verbreitete Interpretation der jüngsten Wahlen in Moldau als von Russland manipuliert. Wo man doch zumindest mit ebenso großer Berechtigung hätte auf die ungleiche Behandlung der im Westen und der in Russland lebenden Bürger der Republik Moldau durch ungleichen Zugang zu den Wahlurnen verweisen können. Dadurch wurden die Chancen der „pro-europäischen“ gegenüber den „Russland-nahen“ Politikern unfair bevorzugt.
Gegen unfaire Praktiken bei Wahlen in den mit dem Westen verbundenen Staaten Osteuropas können wir wenig ausrichten. Wir leben dort nicht. Was wir allerdings können ist, wachsam zu sein gegen eine ideologische bedingte Interpretation solcher Wahlereignisse in deutschen Medien. Wenn von Politikern und Journalisten das Wünschenswerte für das Wahre ausgegeben wird, ist der Weg zur Anwendung von Mitteln, die die Demokratie in der Realität untergraben, um das „richtige Ergebnis“ zu erreichen, nicht mehr weit. Wenn die Vernunft schläft, erwachen die Ungeheuer! Und die Demokratie, die wahre, nicht die „reale“, geschönte, sollte uns angesichts unserer kollektiven Erfahrungen vor 1989 wirklich wert sein verteidigt zu werden.
Sonst kommen wir irgendwann zur Weisheit jenes großen Führers aller Werktätigen, der die Auffassung vertrat: „[…] es ist nicht wichtig, wie das Volk wählt, es ist wichtig, wer die Stimmen zählt“.