Den diesjährigen Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten der israelisch-US-amerikanische Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr, der Franzose Philippe Aghion und der US-Amerikaner Peter Howitt für ihre Forschungen über Wirtschaftswachstum, technischen Fortschritt und schöpferische Zerstörung. In der Begründung heißt es: „In den letzten 200 Jahren hat die Welt mehr Wirtschaftswachstum erlebt als je zuvor. Seine Grundlage ist der ständige Fluss technologischer Innovation. Anhaltendes Wachstum tritt auf, wenn in einem Prozess der schöpferischen Zerstörung alte durch neue Technologien ersetzt werden. Die diesjährigen Laureaten erklären mit unterschiedlichen Methoden, warum diese Entwicklung möglich war und was für ein weiteres Wachstum notwendig ist.“
Während Mokyrs wirtschaftshistorische Untersuchung über die Wechselwirkung von Innovation, Wachstum und institutionellem Gefüge der Frage nachgeht, warum das Wachstum seit der industriellen Revolution im Vergleich höher und stetiger als früher war, konzentrierten sich Aghion und Howitt in ihren gemeinsam vorgelegten Arbeiten auf die Rolle des von Joseph A. Schumpeter 1942 als „schöpferische Zerstörung“ bezeichneten Innovationsprozesses der Gegenwart. Dieser sei einerseits „schöpferisch“, weil Neues entsteht und das Wachstum vorangetrieben wird, er sei aber andererseits zerstörerisch, weil die bisherige Produktionstechnik entwertet werde, Unternehmen vom Markt verdrängt und bestehende Wirtschaftsstrukturen zerstört würden. Schumpeter hatte diesem Vorgang zwar eine markante Bezeichnung gegeben, aber schon der von ihm teilweise bewunderte Karl Marx hat die „Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit auf Kosten der schon produzierten Produktivkräfte“ und der „Entwertung des vorhandenen Kapitals“ in solchen Prozessen analysiert. Was also ist so neu an den Untersuchungen der diesjährigen Laureaten, um dafür einen Nobelpreis zu erhalten?
Bisher wurden zwei Wachstumstheoretiker mit diesem Preis geehrt. Robert Solow erhielt ihn 1987 für eine Theorie, mit der er 1956/57dem keynesianischen Wachstumsmodell eine neoklassische Theorie entgegensetze. In der keynesianischen Theorie (Harrod-Domar-Modell) ist das Wachstumsgleichgewicht ständig der Gefahr unterworfen, in eine Rezession abzurutschen. Solow dagegen konstruierte ein Modell, bei dem kein Risiko eines „Wachstums auf des Messers Schneide“, wie er das nannte, bestände. Ein stetiges, gleichgewichtiges Wachstum ohne Krisen sei möglich. In diesem Modell, das auch für ökonometrische Analysen realer Wachstumsprozesse herangezogen wurde, spielt neben Kapital und Arbeit ein sogenannter „dritter Faktor“ eine Rolle. Er wurde oft als technischer Fortschritt interpretiert, aber Solow warnte ursprünglich vor einer solchen Interpretation. Es sei eigentlich ein statistisches Residuum, ein Sammelsurium von nicht erklärbaren Wachstumseinflüssen und statistischen Unsicherheiten. Seine Warnung verhallte; zu verlockend erschien es, diesen Faktor als den technischen Fortschritt zu interpretieren. Neben anderen, in der theoretischen Diskussion jener Jahre zur Sprache kommenden Ungereimtheiten hatte diese Theorie unter anderem das Manko, die Quelle dieses technischen Fortschritts nicht zu erklären. Er fiele, wurde gewitzelt, „wie Manna vom Himmel“. Erst Jahre später entwickelte Paul Romer das Modell einer sogenannten „endogenen“ Wachstumstheorie. Innovationen und technischer Fortschritt würden auf der Grundlage von Investitionen in Forschung und Entwicklung aus dem Wachstumsprozess heraus generiert. Alles andere läuft weiter wie bei Solow: Es kommt zu einem stetigen, gleichgewichtigen Wachstum. Romer erhielt 2018 den Nobelpreis.
Man kann mit diesen Modellen mehr oder wenige interessante oder auch abwegige Berechnungen anstellen und theoretische Überlegungen illustrieren, aber seien wir ehrlich: Läuft das Wachstum wirklich so problemlos „stetig“ und „gleichgewichtig“ in einem quasi luftleeren Raum frei von Konkurrenz, sozialen Konflikten, Zerstörungen und Krisen ab? Partizipieren wirklich alle völlig gleichmäßig von Innovation und Wachstum? Selbst in der etablierten Wirtschaftswissenschaft blieb diese Erzählung umstritten.
In diesem Jahr scheint das Nobelpreiskomitee über seinen, vom neoklassischen Mainstream geworfenen Schatten gesprungen zu sein. Es würdigt eine Theorie, in der Gleichgewichte und Ungleichgewichte, Fortschritt und Zerstörung Hand in Hand gehen und mit Firmensterben, Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg in den verdrängten Wirtschaftsbereichen verbunden sind. Schumpeter hatte mit der neoklassischen Gleichgewichtstheorie seiner Zeit nichts am Hut und die Quintessenz seines Werks „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ von 1942 ist die Überzeugung, dass das innovative Unternehmertum, ja der Kapitalismus als Ganzes keine, der Sozialismus aber sehr wohl eine Überlebenschance habe.
Diesen Gedanken freilich lehnen die neuen Nobelpreisträger ab. Sie glauben, den Niedergang (auch den gegenwärtigen Rückgang der Wachstumsraten der Produktivität) mit geeigneten institutionellen Arrangements und wirtschaftspolitischen Instrumenten abwenden zu können. Die Wachstumsverlangsamung sei Ausdruck einer Abschwächung des Prozesses der schöpferischen Zerstörung aufgrund monopolistischer Tendenzen, der Verringerung der Arbeitsmarktflexibilität sowie dem Erstarken von innovationsfeindlichen Interessengruppen. Die Nobelpreisträger würden zeigen, so das Nobelkomitee, mit welchen Hebeln dem entgegengewirkt werden und wie man dem „Schicksal sinkender Ertragsraten“ entkommen könne.
Die Innovationen werden, und das ist in der Welt des ökonomischen Mainstreams wirklich neu und bemerkenswert, nicht mehr allein von Marktkräften und innovativen Unternehmern hervorgebracht, sondern sie sind auch vom institutionellen Gefüge einer Gesellschaft und staatlicher Einflussnahme abhängig. Aghion und Howitt zeigen auf der Ebene der Firmen- und Industriegeschichte, wie Gründungen, Markteintritt und -austritt, Aufstieg und Abstieg von Unternehmen, wie Arbeitsplatzvernichtung und Arbeitsplatzschaffung mit der Entwicklung der Produktivität korreliert sind. Damit wird die „schöpferische Zerstörung“ ökonometrischen Untersuchungen und der mathematischen Modellierung zugänglich gemacht. Solche Analysen wurden erst möglich auf der Basis der heute vorliegenden detaillierten statistischen Massendaten, die mittels modernster mathematischer Methoden und Rechentechnik untersucht werden können.
Interessant ist der Zeitpunkt, zu dem das Nobelkomitee diese Theorien würdigt. Es geht hierbei nicht nur um die erstmalige mathematische Modellierung der schöpferischen Zerstörung. Viel wichtiger scheint die Botschaft, das „westliche“ System sei nicht nur schlechthin überlebensfähig, sondern aufgrund seiner Innovationfähigkeit und einer geeigneten Wirtschaftspolitik anderen Systemen überlegen. Damit werden die heute besonders massiven wirtschaftspolitischen, forschungs- und technologiepolitischen Bemühungen um die Innovationsfähigkeit dieses Systems theoretisch und ideologisch unterstützt.
Während Aghion/ Howitt das anhand des mikro- und makroökonomischen Innovationsmechanismus erläutern, liefert Mokyr die große vergleichende historische Draufsicht. Die Herausbildung und Entwicklung des Kapitalismus sei mit der Verbindung von Aufklärung, Wissenschaft, unternehmerischer Anwendung der Technologie und seinem institutionellen Gefüge verbunden gewesen.
Wesentliche Aspekte dieser Entwicklung bleiben allerdings ausgeblendet. Der Prozess der „ursprünglichen“ Akkumulation des Kapitals, der gewaltsamen Enteignung ländlicher Produzenten, die Entstehung des Kapitals „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ und eines „Fortschritts, der seinen Nektar aus den Schädel Erschlagener trinkt“ (Marx), finden in den Arbeiten von Mokyr nicht statt. Eine soziale Frage scheint es nicht gegeben zu haben. Ausbeutung, Entfremdung, historische Phasen massenhafter Arbeitslosigkeit, fürchterliches Elend, expansionistisches, imperialistisches Streben, die Nutzung von Innovationen für militärische Destruktivkräfte, Kolonialismus und Kriege haben in dieser Theorie keinen Platz. Periodischen Krisen – die erste zyklische Überproduktionskrise erlebte der englische Kapitalismus vor just 200 Jahren – werden nicht thematisiert. Es werden einfach große, langfristige Trends der Pro-Kopf-Produktion, der Innovationsdichte und andere Merkmale von Wohlstand dem vorkapitalistischen Zeitalter gegenübergestellt. Im Großen und Ganzen sei doch alles prima, oder?