Kürzlich konstatierte Thomas Fasbender in der Berliner Zeitung: „Rüstung, Sanktionen und Russenangst, mehr fällt den Europäern nicht ein. Dabei geht es ihnen im Kern um die Osterweiterung des Westens, um den Dschihad der liberalen Ordnung. Während die stärker auf Realismus ausgerichteten USA von dem Ziel Abstand nehmen, und der globale Süden sich in Organisationen wie Brics und SCO dagegen positioniert, stecken die Europäer altersstarr und fantasielos in ihrem Sendungsbewusstsein der 1990er-Jahre fest.“
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Der Journalist kann sich durch die von der EU vorangetriebene Hochrüstungsorgie nur bestätigt sehen. Am 16. Oktober hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen sogenannten Verteidigungsfahrplan vorgestellt, von dem Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), Hans Christoph Atzpodien, sofort wusste, der würde im Idealfall zu einem „rüstungspolitischen Bebauungsplan“ führen.
Die EU-Roadmap sieht vor, dass die 27 Mitgliedstaaten bis Ende des ersten Quartals 2026 Koalitionen der Freiwilligen bilden, um neun militärische Fähigkeitslücken zu schließen. Konkret geht es um folgende Bereiche:
- Luftverteidigung,
- satellitengestütze Aufklärung und Kommunikation,
- Transport und militärische Mobilität,
- Artilleriesysteme,
- Cyber-, KI- und Elektronische Kriegsführung,
- Lenkwaffen und Munition,
- Drohnen und Abwehr von Drohnen,
- Bodengefechtsfähigkeiten und
- maritime Fähigkeiten.
In allen Bereichen soll die gemeinsame Beschaffung von Waffensystemen verdoppelt werden – von derzeit 20 auf 40 Prozent. Für die vorgesehenen Freiwilligenkoalitionen hätten sich bereits jeweils mehr als zehn Interessenten gemeldet.
Die EU-Kommission rechnet damit, dass die aus dem Rüstungsfond SAFE bereits zur Verfügung gestellten 150 Milliarden Euro an abrufbaren Kreditmitteln insgesamt bis zu 800 Milliarden für Rüstungszwecke mobilisieren werden.
Bereits im zurückliegenden Juli hatten die Medien – unter anderem das Handelsblatt – darüber berichtet, dass die EU „mit Blick auf die Infrastruktur nur unzureichend auf eine mögliche militärische Auseinandersetzung mit Russland vorbereitet“ sei; insbesondere Straßen, Brücken und Bahnlinien seien nicht darauf ausgelegt, „Truppen, Panzer und militärisches Gerät zügig über den Kontinent zu transportieren“. 17 Milliarden Euro sollen Abhilfe schaffen und die militärische Mobilität innerhalb der EU erhöhen, indem „rund 500 Infrastrukturprojekte entlang vier strategischer Korridore modernisiert oder neu gebaut werden“.
Währenddessen hat die Bundeswehr, die nach dem Diktum des deutschen Kanzlers vom Mai 2025 zur stärksten konventionellen Armee Europas werden soll, ihr ganz eigenes rüstungspolitisches Wunschkonzert angestimmt. Das diesbezügliche 39-seitige Regierungspapier ist streng vertraulich. Gleichwohl hat das zum Springer-Konzern gehörige Magazin Politico am 27. Oktober 2025 detailliert darüber berichtet. Demzufolge sind darin Rüstungsanschaffungen im Gesamtwert von 377 Milliarden Euro für Land-, Luft-, See-, Weltraum- und Cyberstreitkräfte aufgelistet. Dank fürs Militär abgeschaffter Schuldenbremse kann der ganze Segen der jetzigen Generation deutscher Steuerzahler und den kommenden völlig ungehemmt aufgebürdet werden – getreu der Jens Spanschen Selbstermunterung: „Was nützt die schönste Schuldenbremse, wenn der Russe vor der Tür steht?“ Dass diese irren Summen in gesellschaftlich relevanten, aber unter Kriegstüchtigkeitsaspekten allenfalls sekundären gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung, Gesundheit und Pflege, Kultur, Wissenschaft und Forschung oder zivile Infrastruktur so sicher wie das Amen in der Kirche fehlen werden – so what?
Aus dem Beschaffungsplan, „den POLITICO eingesehen hat“, ginge hervor, „dass die Bundeswehr im nächsten Haushaltsjahr etwa 320 neue Rüstungs- und Ausrüstungsprojekte starten will“. Für 178 davon wären die Auftragnehmer bereits festgelegt: „Rheinmetall ist mit Abstand der größte Gewinner. Der Düsseldorfer Konzern und seine verbundenen Unternehmen tauchen in 53 separaten Planungslinien im Wert von mehr als 88 Milliarden Euro auf.“ Unter anderem geht es um 561 Skyranger 30-Turmsysteme zur Bekämpfung von Drohnen im Kurz- und Nahbereich. „Diehl Defence ist nach Rheinmetall der zweitgrößte industrielle Anker der Bundeswehr. Der bayerische Raketenhersteller taucht in 21 Beschaffungslinien im Wert von 17,3 Milliarden Euro auf.“ Der größte Anteil entfalle dabei auf die IRIS-T-Familie, das Rückgrat der zukünftigen deutschen Luftverteidigung.
Weltraumprogramme (geostationäre Kommunikationssatelliten, modernisierte Bodenkontrollstationen und ein Satellitensystem in der erdnahen Umlaufbahn) im Gesamtwert von 14 Milliarden Euro zählten laut dem US-Magazin zu den „teuersten neuen Projekte[n] der Bundeswehr“.
Direkt auf Russland zielt ein weiteres Vorhaben auf der Wunschliste: Die Bundeswehr, so Politico, plane „den Kauf von 400 Tomahawk Block Vb-Marschflugkörpern für rund 1,15 Milliarden Euro sowie drei Lockheed Martin Typhon-Abschussvorrichtungen im Wert von 220 Millionen Euro – eine Kombination, die Deutschland eine Reichweite von 2000 Kilometern verschaffen würde“.
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Vor solchen Hintergründen verwundert es nicht, dass Protagonisten militärisch-industrieller Komplexe Morgenluft wittern und alles daransetzen, den gegenwärtigen westlichen Kurs der verschärften Konfrontation und Hochrüstung gegenüber Moskau dauerhaft zu zementieren.
In besonders offener, um nicht zu sagen dreister Manier hat das dieser Tage Walerij Saluschnyj – bis 2024 Oberkommandierender der ukrainischen Streitkräfte, derzeit Kiews Botschafter in London und von Westmedien regelmäßig zum potenziellen Nachfolger von Ukraine-Präsident Selenskyj ausgerufen – getan. In Gestalt eines Beitrages, den die Ukrainskaja Prawda am 21. Oktober 2025 auf Ukrainisch, Russisch und Englisch veröffentlicht hat; unter dem etwas irreführenden Titel „Більша кооперація з Україною в сфері ОПК як стратегія уникання війни“ („Verstärkte Zusammenarbeit mit der Ukraine im militärisch-industriellen Komplex als Strategie zur Vermeidung von Kriegen“; alle nachfolgenden Zitate entstammen der englischen Fassung).
Als theoretisches Unterfutter dessen, was Saluschnyj den NATO- und EU-europäischen Staaten offerieren will, zitiert er zunächst einen nicht namentlich genannten „Klassiker der Militärstrategie“, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben habe: „In der modernen Realität ist Frieden in erster Linie das Ergebnis von Gewalt und wird durch Gewalt aufrechterhalten. Jede Staatsgrenze ist das Ergebnis eines Krieges […].“ Im Übrigen beruhten „die Definition von Sicherheit und ihre bedingungslose Verwirklichung auf recht einfachen Konzepten“; lediglich drei Punkte seien entscheidend:
- „Das erste ist der politische Wille, bereit zu sein, praktische, auch unpopuläre Schritte zu unternehmen“ und Verteidigungsfragen auch dann „Vorrang einzuräumen, wenn dies beispielsweise eine Verschlechterung des wirtschaftlichen Wohlergehens bedeutet“.
- „Der zweite Faktor sind gut ausgebildete und ausgerüstete Streitkräfte mit modernen Waffen und modernen Doktrinen.“
- „Der dritte ist der militärisch-industrielle Komplex.“
Auf dieser Grundlage plädiert Saluschnyj für die „Schaffung einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur“ und meint damit allen Ernstes ein durchmilitarisiertes Gebilde der NATO- und EU-europäischen Staaten, in das die Ukraine mit ihren Streitkräften und ihrer Rüstungswirtschaft „als vollwertiger Akteur“ einzubetten wäre und dessen vorrangiger, wenn nicht einziger Zweck darin bestünde, siegreich Krieg gegen Russland führen zu können.
Von Politik und Diplomatie zum Zwecke zwischenstaatlichen Interessenausgleichs und zur Konfliktprävention sowie über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, Rüstungskontrolle, gar Abrüstung mittels internationaler Vereinbarungen und Verträge – praktisch kein Wort. Dafür Plattitüden eines Kriegers im Brustton seiner Überzeugung:
- „Der Krieg kann langwierig sein.“
- „Neue Technologien haben Einzug auf dem Schlachtfeld gehalten […].“
- „Der Krieg ist wahrhaftig hybrid geworden.“
- „In einem Zermürbungskrieg spielt das Personal eine entscheidende Rolle.“
- „Der Schlüssel zu erfolgreichen Kampfhandlungen sind eine effektive Logistik sowie materielle und technische Unterstützung.“
Saluschnyj Pamphlet liest sich im Endeffekt wie ein nachdrückliches Plädoyer, so etwas wie eine gesamteuropäische Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) unter Einschluss Russlands nur ja nie wieder zu versuchen.
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Aussichten für die nächste Dekade? Dazu nochmals Thomas Fasbender: „Im besten Fall sitzt Europa in zehn Jahren auf Tausenden von Panzern und Flugabwehrraketen, und die Russen marschieren immer noch nicht in Richtung Elbe oder Rhein. Oder Kopenhagen.“
Und im schlimmsten Falle?
Hat der Krieg mit Russland, den im Westen so viele seit Jahren so überaus eifrig herbeireden, dann bereits stattgefunden und zur Zerstörung all dessen geführt, was angeblich verteidigt werden sollte …