Das Fürchterliche an der Shoa ist eben nicht,
dass die Nazis unmenschlich waren;
das fürchterliche ist, dass sie menschlich waren –
wie Sie und ich.
Yehuda Bauer, israelischer Historiker,
1998 vor dem Deutschen Bundestag
Die „Frage aller deutschen Fragen“, wie all die Verbrechen in der historisch und „lebensgeschichtlich extrem kurzen Zeit von nur zwölf Jahren“ geschehen konnten, beantwortet Götz Aly in seinem neuen opulenten Werk fragmentarisch.
Das ist keineswegs meine Kritik, sondern eine Selbsteinschätzung des bekannten Historikers zu seinem Buch über Deutschland 1933 bis 1945. Nur, diese „Fragmente“ haben es in sich und lohnen unbedingt, entdeckt zu werden.
Allein im aus deutscher Sicht aussichtslosen „Endkampf“ um Berlin fielen in den letzten Tagen zwischen dem Stadtrand in Marzahn und dem Alexanderplatz 80000 deutsche und 60000 sowjetische Soldaten. Warum? So fragt Götz Aly während einer Buchvorstellung in der Berliner Staatsbibliothek.
Auf insgesamt 762 Seiten breitet er seine Sicht in zwölf Hauptkapiteln aus, ergänzt um einen ebenso überschaubaren wie nützlichen Anhang von 80 Seiten. Hier kann lediglich punktuell auf das Buch eingegangen werden.
Götz Aly, bekannt für seine provokativen Analysen zur deutschen Geschichte, legt erneut ein Werk vor, das den Leser sowohl fesselt als auch herausfordert. Er widmet sich der vielschichtigen Frage, wie es zum Aufstieg und der Konsolidierung des Nationalsozialismus und den beispiellosen Verbrechen des Dritten Reiches kommen konnte.
Ihm gelingt es, eine beeindruckende Fülle an Quellenmaterial zusammenzutragen und kritisch zu beleuchten. Besonders hervorzuheben ist sein Fokus auf den „ganz normalen Bürger“, der nicht unbedingt ein überzeugter Nationalsozialist war, aber dennoch aktiv oder passiv zur Stabilisierung des Systems beitrug. Diese Perspektive eröffnet einen differenzierten Blick auf die verbreitete Mitläuferschaft und die gesellschaftlichen Mechanismen, die das NS-Regime stützten. Neben den Tätern sind es „die aktiven, gefügigen oder stillen Mitmacher“, deren Motive er besonders intensiv nachgeht.
Neu in Alys Werk ist die Betonung der emotionalen und psychologischen Dimensionen der Beteiligung. Aly zeigt auf, wie Angst, Gruppenzwang und der Wunsch nach sozialer Anerkennung das Verhalten vieler Menschen prägten und wie Schweigen und Untätigkeit das Regime indirekt unterstützten. Diese Erkenntnis erweitert das Verständnis von Verantwortung über die direkten Akteure hinaus.
Aly sieht in „Hitlerdeutschland“ ein Primat der Politik über die Ökonomie und widerspricht folgerichtig Faschismustheoretikern marxistischer Prägung. Wertungen wie „Faschismus ist die Macht des Finanzkapitals selbst. Das ist die organisierte Abrechnung mit der Arbeiterklasse und dem revolutionären Teil der Bauernschaft und der Intelligenz.“ von Georgi Dimitroff auf dem VII. Weltkongress der Komintern 1935 bewertet Aly als „absurde Merksätze“. Auch Einschätzungen, die Anhänger und Funktionäre des Nationalsozialismus seien hauptsächlich „desorientierte Kleinbürger“ gewesen, bezeichnet er als beliebte faktenlose Fiktion. Und tatsächlich weist er anhand unzähliger Quellen nach: „Gut ausgebildete Musiker und Juristen wurden ebenso zu Massenmördern wie Polizisten, Büroangestellte, Bauern, Fach- oder Hilfsarbeiter.“
Nach Adolf Hitler ist Joseph Goebbels die zentrale Figur des Buches, das ist auch quellenbedingt, denn der „Reichspropagandaleiter“ hinterließ 29 Bände seiner Tagebücher, die mittlerweile für jeden in digitaler Form nutzbar sind.
Neben Nazigrößen sind es vor allem Persönlichkeiten wie Victor Klemperer (Romanist, Jude, Tagebuchautor), Thomas Mann (Literaturnobelpreisträger, Exilant), Wilhelm Röpke (Wirtschaftswissenschaftler) oder Hermann Stresau (Bibliothekar) die immer wieder an verschiedenen Stellen des Buches zu Worte kommen.
In seiner kritischen, wissenschaftlichen Analyse benutzt Aly, wie er schreibt, Adjektive des Abscheus oder innerer Empörung – fast – nicht. Da die untersuchte Zeitspanne langsam von der jüngsten deutschen Vergangenheit in die entferntere Neuere Geschichte hinübergleitet, um historiographische Begriffe zu nutzen, setzt der Buchautor bei der ersten Nennung der meisten Personennamen die Lebensdaten. Das ist für den Leser eine überaus hilfreiche Entscheidung, erfährt er doch so, ob oder wie lange die jeweilige Person (Nazi, Helfer, Opfer, Gegner) die Kriegsjahre überlebt hat.
Bereits das erste Hauptkapitel „Antisemitismus und soziale Mobilität“ belegt zwei wichtige Quellen für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Aly zeigt dies an der Bevölkerungsentwicklung (die Jahrgänge 1900 bis 1915 waren die geburtenstärksten der deutschen Bevölkerungsgeschichte überhaupt). Diese Generation begehrte Teilhabe, die Jung- und Erstwähler trugen zu den Wahlerfolgen der NSDAP 1930 und 1932 erheblich bei. Mit der NSDAP schien klassen- und religionsübergreifend ein persönlicher Aufstieg möglich.
Juden in Deutschland waren überproportional gebildet, erhielten entsprechend durchschnittlich höhere Löhne. Dem Bildungsvorsprung der Juden schlug Neid der sozialen Neu- und Spätaufsteiger entgegen. Ein Beispiel für den weit in der Mitte der Gesellschaft verbreiteten Antisemitismus: „Ob es gelingen wird, den Juden ihre unrechtmäßigen Privilegien zu entreißen? […] Schließlich haben wir weit über 50 Prozent Juden bei uns, das ist die 50-fache Menge, als erlaubt sein sollte.“ Der junge Wissenschaftler am Chemischen Institut der Berliner Universität, der dies in einem Brief im März 1933 an seinen Vater schrieb und offenbar auf den jüdischen Bevölkerungsanteil von einem Prozent anspielte, war Robert Havemann, kein Nazi und zehn Jahre später wegen Widerstands gegen den NS-Staat zum Tode verurteilt.
Hitler erkannte den Zusammenhang von allgemeinem Aufstiegswillen, Neid auf die Juden und deshalb ansteigenden Antisemitismus früh. Das Durchschnittsalter der NSDAP-Mitglieder war deutlich jünger als in den anderen Parteien. Hitler inszeniert sich als Kanzler der Einheit, föderale Strukturen wurden im Deutschen Reich abgeschafft und 1934 erstmals eine „deutsche“ Staatsangehörigkeit eingeführt.
Anhand vieler Belege über die Staatsfinanzen weist Aly nach, dass die „Regierungspolitik Hitlerdeutschlands als hochkriminell durchorganisierte, blutigste Konkursverschleppung der Weltgeschichte“ gekennzeichnet werden kann. Die Staatsloyalität der überwiegenden Mehrheit der Deutschen wurde durch unermessliche Schulden erkauft. Dabei kam es auch zu sozialen Leistungen, die bis heute gelten. Gemeint sind nicht nur der 1. Mai als Feiertag, sondern auch die erstmalige Krankenversicherung für Rentner ab 1941 und die gesetzliche Unfallversicherung für Arbeitnehmer sowie verbesserte Witwen- und Waisenrenten ab 1942.
Zu Beginn des Jahres 1943 jährte sich am 30. Januar zum zehnten Mal der Tag der „Machtergreifung“ Hitlers. Symbolträchtig fiel dieser Tag mit der Kapitulation der 6. Armee im Kessel von Stalingrad zusammen. Wenige Tage später am 18. Februar 1943 kam es zu zwei sehr unterschiedlichen, ja antagonistischen Reaktionen auf die Niederlage von Stalingrad: Am Vormittag legten Sophie und Hans Scholl in der Münchener Universität Flugblätter der Widerstandsgruppe Weiße Rose aus. Am frühen Abend hielt Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast jene berüchtigte Rede, die viele Zehnmillionen Hörer erreichte und in der laut bejubelten Frage kulminierte: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Aus den anfänglichen „Blitzkriegen“ war ein „totaler Krieg“ geworden, es ging nur noch um „Sieg oder Untergang“.
Beginnend mit den Euthanasiemorden (deren Erforschung Aly in den vergangenen Jahren maßgeblich voranbrachte) 1940 bis 1941 und der folgenden „Endlösung der Judenfrage“ , dem Holocaust, etwa ab Ende 1941 – beide im Schatten des Krieges –, war aus der deutschen Gesellschaft eine Verbrechensgemeinschaft geworden. Die Judenmorde waren nicht nur antisemitisch begründet, sie dienten auch der wirtschaftlichen Stabilisierung der eigenen Herrschaft, sie waren ein Massenraubmord. Alle Brücken zu einer Umkehr schienen abgebrochen. Geprägt von der Mitwisserschaft, dem Mitprofitieren, der Mitschuld oder direkten Mittäterschaft an den deutschen Verbrechen funktionierte die große Mehrheit ohne zu widerstehen und „kämpften Millionen deutsche Soldaten blindlings bis zum Ende“. Allein in den letzten vier Kriegsmonaten fanden 30 Prozent der deutschen Soldaten im Weltkrieg den Tod.
Auf die Gegenwart bezogen, formuliert Aly in der Einleitung: „Nicht unaktuell erscheint der Umstand, dass sich der Nationalsozialismus als identitäre Massenbewegung präsentierte, die für das Ende erlittener Demütigungen eintrat, Denkmäler stürzte, Straßen umbenannte und ihre Anhänger als per se bessere Menschen qualifizierte, denen die Zukunft gehöre.“
Während der oben genannten Buchvorstellung äußerte der Gastgeber Peter Altmaier, unter Angela Merkel verschiedene Ministerposten, jetzt Vorsitzender der Freunde der Staatsbibliothek, seinen Wunsch an Götz Aly, doch noch ein neues Buch zu schreiben: „Wie sind die Mitläufer am Ende Demokraten geworden in der Bundesrepublik?“ Die Bundesrepublik sei eine Erfolgsgeschichte und existiere länger als Kaiserreich, Weimarer Republik und 3. Reich zusammen. Das stimmt zwar, jedenfalls die Addition der Jahreszahlen, aber wieder einmal wird ein Teil Deutschlands ausgespart. Aly wehrte das Ansinnen mit Gesten ab, hatte er doch unlängst erklärt, er wolle sich nicht mehr jeden Tag mit Hitler befassen und es sei sein letztes großes Buch gewesen, an dem er drei Jahre lang gearbeitet habe. Ich finde, er sollte unbedingt weiterschreiben.
Götz Aly: Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2025, 762 Seiten, 34,00 Euro.