Ein deutsches Sprichwort lautet: Keine Antwort ist auch eine Antwort. Abgewandelt bedeutet dies, dass auch die Nichtveröffentlichung eines turnusmäßig fälligen Berichts eine Botschaft enthalten kann, nämlich die, dass es nichts Neues zu berichten gibt, jedenfalls keine Erfolge oder Verbesserungen. Das Ausbleiben eines Berichts kann aber auch bedeuten: Die Lage ist derart angespannt und verfahren, dass eine Jubelberichterstattung unmöglich ist. Schlechte Nachrichten aber hält man besser zurück. – Irgendetwas davon muss zutreffend sein, denn anders lässt es sich kaum erklären, warum die Bundesregierung in diesem Jahr darauf verzichtet hat, vor der Feier am 3. Oktober einen aktuellen „Bericht zum Stand der Deutschen Einheit“ vorzulegen.
Seit 1997 war es üblich, die Ergebnisse der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Ostdeutschlands in solchen Jahresberichten zusammenzufassen und diese, jeweils ergänzt durch einen statistischen Datenanhang und einen Maßnahmenkatalog, zum Tag der Deutschen Einheit zu publizieren. Zuletzt zeichneten sich aber offenbar Kompetenzprobleme und Ermüdungserscheinungen ab. So gab es im Jahr 2022 anstelle des Berichts der Bundesregierung erstmals einen eigenen, schwerpunktmäßig etwas anders gelagerten „Bericht des Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland“. Gleiches galt für 2024. Darin wurde auf die großen Entwicklungserfolge Ostdeutschlands seit 1990 verwiesen, zugleich aber auch auf die Unvollkommenheit und Unabgeschlossenheit des Vereinigungsprozesses aufmerksam gemacht. Insbesondere wurde eingeräumt, dass mehr als drei Jahrzehnte nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik immer noch keine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Ost und West erreicht worden sei. Vielmehr hinke der Osten wirtschaftlich wie sozial weiter dem Westen hinterher und erfülle damit, wenn auch regional differenziert, die meisten Kriterien einer demografisch ausgedünnten und überalterten, wirtschaftlich zurückgebliebenen und sozial wie kulturell vernachlässigten und abgehängten Region.
2025 wird als Bericht der Ostbeauftragten ein 138-Seiten-Papier mit dem fragenden Titel „35 Jahre: Aufgewachsen in Einheit?“ präsentiert. Darin kommen junge Menschen aus Ost und West zu Wort, die 1990 noch nicht oder gerade erst geboren waren. Aus individueller Sicht beschreiben sie, welche Relevanz die Kategorien „Ost“ und „West“ heute noch haben. Ausdrücklich heißt es: „Die Beiträge und Perspektiven spiegeln dabei nicht die Haltung der Bundesregierung wider.“
Wie dem auch sei: Die Unterschiede zwischen Ost und West lassen sich anhand einer Reihe ökonomischer und sozialer Indikatoren belegen, dokumentieren sich aber auch in den Ergebnissen der jüngsten Forsa-Umfrage, wonach für 75 Prozent der Ostdeutschen im Ost-West-Verhältnis inzwischen „das Trennende“ überwiegt und von einem „Zusammenwachsen“ keine Rede mehr sein kann. Diese Divergenz spiegelte sich auch in den Wahlergebnissen vom Frühjahr 2025 wider und findet in den Vorhersagen für die kommenden Landtagswahlen im Osten ihre Bestätigung. Vor allem sind es die hohen Stimmenanteile der AfD, die beunruhigend wirken. Die aber sind nicht nur Ausdruck der Unzufriedenheit eines Teils der Bevölkerung mit der Innen- und Außenpolitik der Bundesregierung, sondern auch Folge der Enttäuschung und Frustration vieler Ostdeutscher über die anhaltende wirtschaftliche und soziale Diskrepanz zwischen Ost und West und die auch nach 35 Jahren nicht vollständig realisierte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im vereinigten Deutschland.
Ein paar Schlaglichter sollen das verdeutlichen: Von 1990 bis heute ist die demografische Entwicklung in Deutschland gegensätzlich verlaufen. Im Westen ist die Bevölkerungszahl um rund 10 Prozent auf 67,5 Millionen gestiegen, im Osten ist sie um 16 Prozent gesunken, auf 12,4 Millionen Einwohner (ohne Berlin). Der Anteil junger Menschen war im Osten 1990 höher als im Westen, der Anteil älterer Menschen geringer. Mittlerweile hat sich das umgekehrt, so dass in Ostdeutschland von einer „Überalterung“ gesprochen wird. Zwischen Ost und West gibt es nach wie vor einen klar erkennbaren Abstand hinsichtlich der Wirtschaftskraft. Im zurückliegenden Jahrzehnt hat sich diese Differenz kaum verringert. 2024 betrug das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner in Deutschland 50.819 Euro. In Sachsen-Anhalt waren es nur 36.517, in Thüringen 36.942 und in Mecklenburg-Vorpommern 37.656 Euro. Die differierende Leistungskraft spiegelt sich in den Einkommensrelationen wider. So verdienten Vollzeitbeschäftigte im Osten 2024 im Schnitt 50.625 Euro brutto, im Westen aber 63.999 Euro. Das ist eine Differenz von mehr als 13.000 Euro oder 21 Prozent.
Noch viel größer sind die Unterschiede bei den privaten Vermögen. Ostdeutsche verfügen über weniger als die Hälfte der Geld- und Immobilienvermögen der Westdeutschen. Und das Betriebsvermögen befindet sich ohnehin fast vollständig in westdeutscher Hand. 2024 erhielten Westdeutsche viermal so hohe Summen durch Erbe und Schenkungen wie Menschen im Osten. Dadurch vergrößert sich der Abstand. Da die Sparquote der ostdeutschen Haushalte signifikant unter derjenigen der westdeutschen Haushalte liegt, wird sich die Vermögenslage auch in Zukunft nicht angleichen, sondern weiter differieren und divergieren.
Nun gab es in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht wenige Versuche, die tatsächliche Entwicklung schönzureden oder die objektiven Kriterien der Lebenswirklichkeit in Ost und West durch subjektive Befindlichkeiten, Gefühle und Wahrnehmungen zu ersetzen. Doch das alles hat wenig genützt. Die Stimmung ist trotzdem gekippt und immer mehr Ostdeutsche begreifen sich inzwischen als Geprellte, Benachteiligte und Betrogene des Vereinigungsprozesses. Vor allem aber gilt, dass „ein großes wirtschaftlich-soziales Gefälle zwischen Regionen“, wie es derzeit im vereinigten Deutschland existiert, langfristig „sowohl die strukturellen Entwicklungsmöglichkeiten der benachteiligten Regionen insgesamt als auch die individuellen Entwicklungschancen ihrer Menschen“ beschneidet (Raj Kollmorgen).
Über all dies könnte und sollte man reden. Dabei würden zwangsläufig aber auch Fehler und Versäumnisse der Vereinigungspolitik zur Sprache kommen. Zu einer derart kritischen Aufarbeitung des Vereinigungsprozesses scheint die Bundesregierung jedoch nicht bereit zu sein. Lieber überlasst sie diesbezüglich anderen das Feld. Ein Beispiel für die konstruktive Auseinandersetzung mit der Vereinigungspolitik bietet der im August erschienene „Alternativbericht zum Stand der Deutschen Einheit“, veröffentlicht in der Vierteljahresschrift Vorgänge (Nummer 250/251), herausgegeben von der Humanistischen Union.