Diesmal: „Die Marquise von O. Und –“ Deutsches Theater /
„The Rocky Horror Drag Show“ – RambaZamba-Theater
***
DT: Die Scham muss die Seite wechseln!
Den wohl berühmtesten Gedankenstrich unserer Literaturgeschichte setzte Heinrich von Kleist 1808 in seiner Novelle „Die Marquise von O.“. In gemeißelter Sprache reportiert er „nach einer wahren Begebenheit“ die schlimme Geschichte einer verwitweten Marquise, die ein Graf F. in Kriegswirren vor marodierenden Söldnern bewahrt, bevor sie in den Armen ihres Retters ohnmächtig wird. Wenige Monate später stellt sich heraus: sie ist schwanger. Vergewaltigt offensichtlich vom Grafen; doch Kleist spricht das nicht aus, sondern setzt einen Gedankenstrich.
Die ungarische Regisseurin Ildikó Gáspár nimmt das brisante Satzzeichen zum Ausgangspunkt ihres dokumentarisch gefassten Theaterabends „Die Marquise von O. Und –“. Für das im neuen Titel (nach Kleist) hinzugesetzte „und“ stehen nun aber nicht allein der Herr Graf aus dem 19., sondern noch drei weitere Frauenschänder aus dem 20. und 21. Jahrhundert (sowie überhaupt solcherart Kerle in allen Zeiten bis zum jüngsten Tag). – Ein dramaturgischer Coup: Das Kurzschließen von drei juristisch-journalistisch dokumentierten Fälle von Sexualverbrechen aus jüngerer und jüngster Vergangenheit mit dem literarisch aufbereiteten Fall der Marquise.
So wird die bruchstückhafte Nacherzählung des klassischen Textes (was dessen Wirkung schmälert; Rilke spricht von „stiller Erhabenheit“) – so wird also Kleist immer wieder unterbrochen durch die entsetzlichen Berichte der Franca Viola (im Sizilien der 1960er Jahre), der Erika Renner aus Ungarn (grauenvolle Genitalverstümmelung) und schließlich von Gisèle Pelicot und den jüngst erst gerichtlich offen gelegten, vom Ehemann organisierten Vergewaltigungen in Frankreich.
Das Besondere der Fälle: Die Frauen sahen sich nicht als Opfer, sondern wagten öffentlich Anklage, traten mutig den Tätern entgegen und ihren kläglichen Versuchen, sich zu rechtfertigen oder alles zu bagatellisieren. Selbst Kleists Marquise trotzt den Umständen und sucht mit einer Anzeige im „Intelligenzblatt“ nach „dem Vater zu dem Kinde, das sie gebären werde“, um ihn zu ehelichen „aus Familienrücksichten“. Auch das ein Akt von Emanzipation, freilich ohne explizite Schuldzuweisung – für damalige Verhältnisse jedoch sensationell.
Die Intensität dieses Abends entsteht nicht etwa durch Demonstrationen von Gewalttaten, sondern durch die Konzentration auf die Erzählungen des Grauens von Franca, Erika, Gisèle. – Das Ensemble besteht aus drei Frauen (Maren Eggert, Mathilda Switala, Almut Zilcher) und vier Männern (Alexander Khuon, Florian Köhler, Lenz Moretti, Jörg Pose), alle geschlechtsneutral kostümiert mit Jacketts, wadenlangen Röcken, Absatzschuhen und schwarzen Langhaarperücken. Alle Darsteller bewältigen souverän die ausgefeilte Choreographie wechselseitiger, kaleidoskopartiger Aufteilungen der Rollenfragmente. Dazwischen, passend zur Sache, schnörkellose Rezitation an der Rampe.
Die Gesichter der Sprechenden werden zuweilen via Video als berührende Großporträts auf Leinwände gezogen. Die Bühne ist weit und leer bis auf paar Stühle, Mikrophone, Scheinwerfer und Musikinstrumente – man schlägt einige schrille Klangwolken ins kalte Licht (Ausstattung: Lili Izsák). Ansonsten Nüchternheit für beklemmende Recherchen in Abgründen des Menschen. Für harte Lektionen über Unterjochung, Wehrhaftigkeit, Strafe. Sonderlich hervorstechend, das sei nicht verschwiegen: Almut Zilchers fesselnde Kraft, mit der sie die Berichte, Bekenntnisse, Anklagen sowie den wütenden Ruf der Madame Pelicot in die aufgewühlte Stille des Saales stellt. „Die Scham muss die Seite wechseln!“
Generelle Bemerkung zum DT: Seit ihrem Amtsantritt verfolgt Intendantin Iris Laufenberg einen strikt feministischen, teils aktivistischen Kurs in den Spielplänen. Es dominieren Themen, weniger deren Umsetzung in packende Dramen; und an den tradierten, breit gefächerten Stücke-Kanon traut sich kaum noch jemand. Das (platt) Performative, Dekonstruierte rangiert vor dem ambivalent Spielerischen, was dem großen, noch immer im Kern formidablen Ensemble nicht immer zugutekommt.
Außerdem, und das liegt in der Natur der feministischen Linie: Die Männerfiguren stehen durchweg im schlechten Licht (abgesehen von „Marquise und…“, da sind sie wirklich durch und durch verdorben). Hinzu kommt das unentwegt zeitgeistige Ausstellen der Problematiken Divers und Gender (Männer nahezu stets in Frauenkleidern). Das mag gelegentlich erhellend sein, doch nicht immerzu. Man wünscht sich für das DT mehr dramaturgische Weite und theatralische Vielfalt.
Dass es klappen kann mit Konzeption und Ästhetik beweist glücklicherweise und eher als Ausnahme der so originell wie trefflich erdachten Gedankenstrich-Abend.
*
RambaZamba: Lebenslust und Tollheit
„Drag Queens sind meistens Männer, tragen Frauenkleidung und Make-Up, spielen eine Rolle und sind politisch. Weil: Sie zeigen, es gibt nicht nur Männer und Frauen; gibt keine festen Grenzen zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht.“ – Für eine kleine Aufklärung auf dem Hochglanz-Programmzettel der „The Rocky Horror Drag Show“ ist es nie zu spät; auch wenn die Veranstaltung unter „P18“ läuft. Dazu der Hinweis ans Publikum: „Wir alle sind nackt geboren, der Rest ist Drag. Also schämt euch nicht, seid glamourös und kommt in (oder als) Drag – oder einfach wie ihr drauf seid und Lust habt.“
Man war sehr gut drauf und hatte sehr viel Lust auf beiden Seiten: Sowohl die Entertainer auf dem roten Laufsteg mitten durch den Saal als auch die freilich nur höchst sparsam drag-glamourösen Leute aller Altersklassen drumherum. Die nämlich riss es immer wieder von den Sitzen zum Schwof zu den Hits von Dr. Frank N. bei Furters zünftiger Rambazamba-Party im Fantasy-Schloss der Prenzelberg-Kulturbrauerei. Da wurden alle im Handumdrehen zu Disco-Queens. Verrücktes Mitmach-Theater, doch von der sympathischen Art.
Dabei gerät die Handlung von Richard O’Brien’s „Horror Picture Show“ (aus den Siebzigern) unversehens zur Nebensache. Das Theater feiert sich, feiert Liberalität, Lebenslust und Tollheit, befeuert mit viel Charme, Witz und Ironie. Sowie mit zwei „echten“, also professionellen Berliner Drag-Queens (Judy LaDivina in schwarzem Leder und Zora Schemm in rotem Latex). Und mittendrin das entzückend naive Liebespaar Janett und Bernd (Juliana Götze, Jonas Sippel), das eilends lernt, wie das mit den frivolen Entgrenzungen so läuft. Alles ein spielerisch ausgelassener Spaß (Regie: Jacob Höhne).
Wir müssen bangen, dass dieser der so ruhmreichen, mit Koryphäen des Hochleistungs-Profi-Theaters eng verbundenen Bühne nicht vergeht. Das RambaZamba, vor gut drei Jahrzehnten gegründet „als inklusives Viersparten-Theater für Menschen mit Behinderung“ (Theater, Musik, Kunst, Tanz) – diese Hauptstadt-Institution ist europaweit eine Einzigartigkeit. Besonders durch seine künstlerischen Ansprüche und Qualitäten. Doch jetzt steht seine Existenz auf dem Spiel. Durch Reduktion der Förderung. Noch genügt sie dem laufenden Betrieb. Für die künstlerische Arbeit jedoch fehlt das Budget. Aber ein jedes Theater stirbt ohne Neuproduktionen; gegenwärtig sind das acht pro Spielzeit. – Wer nur kann das wollen?!