Das Zentralorgan für Sozialneid und Unfrieden schlagzeilte am 11. Juli dieses Jahres auf der ersten Seite mit einer Frage: „Wann bin ich reich, wann bin ich arm?“. Und es verwies in der Unterzeile auf die achte Seite, auf der man erführe, „welche Altersgruppe das meiste Geld hat“. Mir ist wumpe, ob es bereits unter Säuglingen Millionäre gibt, wie es auch eine Binse ist, dass hierzulande ganz, ganz Wenige sehr, sehr viel besitzen und sehr, sehr Viele nichts haben. Das jedoch hat weniger mit dem Alter als mit Klassenzugehörigkeit und Kapitalismus zu tun. Um dieses leidige Thema abzuschließen, sei noch verraten, dass auf jener Innenseite ein – vermutlich gut bestallter – Redakteur in einer Tabelle kommentarlos mitteilte, dass fünf Prozent der Deutschen mehr als 11.778 Euro Gehalt im Monat bezögen – hingegen verdienten 20 Prozent 1.265 Euro brutto und darunter.
Ist das Monatseinkommen einer alleinlebenden Person geringer als 1.378 Euro netto, gilt man in Deutschland offiziell als arm. Das stand natürlich nicht dabei.
Die UN legt die Armutsgrenze auf 2,15 Dollar pro Tag fest: Wer weniger am Tag für Nahrung, Kleidung und andere existentielle Dinge ausgeben kann, weil er nicht mehr hat, gilt als arm. Es gibt auch andere Definitionen, die gehen von 3,65 Dollar aus. Einig hingegen ist man sich, dass rund zwanzig Prozent der Weltbevölkerung arm sind und jeder zehnte Erdenbürger hungert. Und dass deren Zahl seit Jahren wächst. Sie wäre aber noch erheblich größer, wenn die Volksrepublik China nicht 800 Millionen Chinesen aus der Armut geholt hätte.
Die spannende Frage, wie das geschafft wurde, stellte man weder in der zitierten Postille noch im Feuilleton der sogenannten Qualitätszeitungen. Zumindest las ich dergleichen nicht. Uwe Behrens aber hat sich diese Frage gestellt. Um Antwort zu finden, ist er mehrere tausend Kilometer mit dem Auto durch China gefahren. Behrens ist weder Journalist noch Soziologe, sondern ein promovierter Logistiker, der 27 Jahre in China und Indien gearbeitet und gelebt hat. Aber er ist neugierig, neugieriger jedenfalls als jene Leute, die es von Berufs wegen sein sollten. Seine Beobachtungen und Erfahrungen, die er im Reich der Mitte machte, hat er bislang in zwei Büchern verarbeitet. Sie unterscheiden sich von den meisten der hier über China verbreiteten Publikationen allein dadurch, dass Behrens vorurteilsfrei, kundig und kompetent berichtet. Auch über seinen neuen Band „Chinas Gegenentwurf. Ein Weg in die Zukunft?“ kann man dies sagen. Uwe Behrens hat Nachrichten an Ort und Stelle gesammelt und teilt sie sachlich mit. Ohne seine Frau Wei Lan, eine Chinesin, wäre dies kaum gelungen, doch auch sie hatte mitunter Mühe, in abgelegenen Bergdörfern mit den Bauern zu kommunizieren: zu verschieden die Dialekte, zu unterschiedlich die Zeichen.
Die Armut in China war zunächst Folge von fast zweihundert Jahren kolonialer Unterdrückung. Darum schrieb sich die Volksrepublik bereits bei ihrer Gründung die Überwindung von Hunger und Elend auf ihre roten Fahnen, doch irrwitzige Experimente („Großer Sprung“, „Kulturrevolution“) und Naturkatastrophen sorgten für dramatische Rückschläge. Bis 1978 Deng Xiaopings Erkenntnis „Armut ist kein Sozialismus. Sozialismus heißt, die Armut beseitigen“ zu gravierenden Reformen in Gesellschaft und Wirtschaft führten. Programme zur Überwindung der Armut wurden wieder aufgenommen und forciert, Ziele formuliert und neue Wege beschritten. Es ging nicht um die Verteilung von Almosen und Zuwendungen, sondern darum, was schon eine alte chinesische Volksweisheit lehrte: „Wenn du einer Familie helfen willst, dass sie Fisch essen kann, dann zeige ihr zu angeln.“ Der Staat stellt allenfalls die Angel zur Verfügung, unter Umständen auch einen Angellehrer.
Behrens dokumentiert die kollektiven Anstrengungen, die auf allen Ebenen unternommen wurden, vor allem aber an der Basis, von den Betroffenen selbst. Schreibt ihre Erfahrungen auf, lässt uns an den Fortschritten teilhaben. Armut – und das macht den Unterschied zu gängigen Armuts- und Hungerbekämpfungsmaßnahmen anderenorts aus – wurde nicht als individuell verursachtes Problem wahrgenommen, sondern als ein gesellschaftliches. Folglich bedurfte es auch gesamtgesellschaftlicher Anstrengungen, um die Not zu überwinden. Das erfolgte (und erfolgt) durch Bildung, Infrastruktur, Digitalisierung, durch die Erschließung neuer Geschäftsfelder. Im weitesten Sinne aber: durch Hilfe zur Selbsthilfe.
Mit der forcierten Entwicklung der Wirtschaft in den Städten vertieften sich allerdings zunächst die Unterschiede zwischen Stadt und Land, entstanden neue soziale Probleme. Darauf geht Behrens auch ein. Nicht zu jeder abgelegenen Siedlung konnte eine Straße gelegt werden, zumal insbesondere in solchen Gebieten die Landflucht groß ist. Behrens besuchte verlassene Dörfer. Aber eben auch solche, die durch den Straßenanschluss, mit Strom- und Internetzugang in das Leben der chinesischen Gesellschaft eingebunden wurden und dadurch an deren wachsender Prosperität partizipieren.
Als ein wichtiges Element erwies sich der Inlandtourismus. China hat ungezählte Naturparadiese und eine lange Historie, die sukzessive erschlossen wurden und werden. Dabei achtet man zunehmend darauf, nicht die Fehler zu wiederholen, die in Europa und anderen Regionen der Welt bei der Entwicklung des Massentourismus begangen werden. Wir kennen die oft schrecklichen ökologischen und sozialen Folgen in den vom sogenannten Overtourism betroffenen Regionen. Chinas Inlandtourismus entwickelte sich rasant, die Zuwachsraten waren größer als die des Bruttoinlandsprodukts. Vor der Corona-Pandemie erwirtschaftete der Tourismus bereits elf Prozent des BIP. Im Umfeld der Natur- und Landschaftsparks und der historischen Kulturstätten entstanden Arbeitsplätze und Dienstleistungen. Behrens schreibt über Begegnungen mit einst armen Bauern, die dadurch wohlhabend wurden, indem sie an Touristen ihre Katen vermieteten. Und von den Einnahmen errichteten sie sich formidable Häuser, in denen sie heute leben.
Landschaftliche Attraktionen haben ganze Regionen verändert. Neue Siedlungen mit privaten Hotels und Restaurants zu erschwinglichen Preisen werden von Vertretern der Mittelschicht geradezu geflutet. Diese macht inzwischen fast ein Drittel der Bevölkerung aus, rund vierhundert Millionen Menschen. Es ist die größte nationale Mittelklasse weltweit. Die schnelle wirtschaftliche Transformation des Landes hat diese Bevölkerungsgruppe zu einem entscheidenden Katalysator für das Wirtschaftswachstum gemacht. „Die Entstehung der Mittelschicht in China und die Befreiung von achthundert Millionen Menschen aus der Armut sind Ausdruck eines bedeutenden gesellschaftlichen Wandels, der erhebliche Auswirkungen auf den Binnenkonsum, die sozialen Strukturen und die internationalen Wirtschaftsbeziehungen hat“, schreibt Behrens.
Aber nicht nur der Tourismus sorgte für die nachhaltige Verbannung der Armut, auch die systematische Revitalisierung alter chinesischer Handwerke tut dies. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Minderheiten und auf abgelegenen Regionen. Inzwischen hat man erkannt, dass auch Kultur – und dabei wird der Begriff sehr weit gefasst – eine wirtschaftliche Ressource ist, die zur Überwindung der Armut eingesetzt werden kann. Die Fülle der Hinterlassenschaften früherer Generationen stärkt Nationalstolz, stiftet zudem nationale Identität. Das ist auch der Führung bekannt, weshalb überall Museen errichtet werden, archäologische Untersuchungen erfolgen, Bestehendes sachkundig erhalten und konserviert wird, damit Bauwerke, Kunstwerke und andere Zeugnisse der einst hier lebenden Menschen auch künftigen Generationen zur Verfügung stehen. Und dann die qualitativen Veränderungen in der Landwirtschaft … – Alle Beispiele hier aufzuführen, sprengte den Rahmen der Rezension des Buches von Uwe Behrens.
Es sollte darum gelesen werden.
Uwe Behrens: Chinas Gegenentwurf. Ein Weg in die Zukunft?, edition ost, Berlin 2025, 256 Seiten, 20,00 Euro.
Im gleichen Verlag erschienen die beiden ersten China-Bücher desselben Autors „Feindbild China. Was wir alles nicht über die Volksrepublik wissen“ (2020) und „Der Umbau der Welt. Wohin führt die Neue Seidenstraße?“ (2023).