Jahrestage historischer Ereignisse, zumal runde, sollten Anlass sein, sich zu vergegenwärtigen. Hat sich unser Wissen, was die Fakten anbelangt, verbessert? Sind die daraus abgeleiteten Bewertungen differenzierter und stimmiger? Welche Lehren oder Schlussfolgerungen können wir für die nunmehrige Gegenwart ableiten?
Der 75. Jahrestag der Potsdamer Konferenz 2020, die dazu im Schloss Cecilienhof (dem einstigen Konferenzort) gestaltete Ausstellung der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (SPSG) sowie die Berichterstattung der Medien über das Ereignis bewogen mich, die vorstehenden Fragen zu stellen. Bis dahin sah ich mich dazu nicht veranlasst.
Am genannten Anlass weitergefragt: Gab und gibt es Wissenschaftler, die aufgrund ihrer Fachdisziplin oder ihrer Zugangsmöglichkeiten zu den Archivbeständen prädestiniert sind, einen Beitrag zur Beantwortung zu leisten? Doch diese stellten die Fragen nicht, sondern wiederholten die schon seit Jahrzehnten verwendeten Aussagen, was die Konferenz und den Ort seiner Durchführung bzw. der Unterbringung der Delegationen anbelangt. Ein Zuwachs an Wissen war nicht erkennbar.
Damals schrieben wir: „75 Jahre ist es her, dass Potsdam zum Schauplatz einer Konferenz wurde, die die Entwicklung in der Welt, in Europa und Deutschland, sowie Potsdam selbst, Jahrzehnte beeinflusste bzw. noch beeinflusst. Über die vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 in Berlin geplante und schließlich in Potsdam abgehaltene Konferenz ist schon viel geschrieben worden. Bislang schien es so, als ob das Thema auserzählt ist und kaum noch Neues hinzu gebracht werden kann. Das ist ein Irrtum. Das Gegenteil ist der Fall. Was die GeschichtsManufaktur Potsdam (GMP) bereits mit verschiedenen, vor allem im Internet veröffentlichten, Beiträgen belegt hat.“
Die Pressemitteilung vom 1. Februar 2019, aus der obiges Zitat stammt, ging an deutsche Nachrichtenmagazine und Tageszeitungen. Keine Reaktion der Redaktionen. Da half es auch nicht, dass dem Text Einzelbeispiele angefügt wurden, um das Interesse an einer Berichterstattung zu wecken.
„Richteten Stalin und die Sowjetunion die Potsdamer Konferenz freiwillig aus oder wurden sie dazu genötigt? Wer trägt die Verantwortung dafür, dass mehrere Hundert Menschen zwischen dem Park Babelsberg und dem UFA-Filmgelände ihr Zuhause verloren und in vielen Fällen erst fast 50 Jahre später dahin zurückkehren konnten? Auf welchem Weg gelangten die Fahrzeugkonvois von den Residenzen der Staatsoberhäupter am Griebnitzsee in Neubabelsberg zum Tagungsort im Schloss Cecilienhof? Wie war das Leben in der Sonderzone, später Sperrgebiet Neubabelsberg? Hätte sich die Entwicklung in Potsdam anders vollzogen, wenn die Konferenz – wie anfangs erörtert – in Wien, Linz oder Bad Oeynhausen bzw. direkt in Berlin stattgefunden hätte?“
Bis zum 80. Jahrestag waren ein Großteil der vorstehend aufgeworfenen Fragen durch die GMP beantwortet und mit einer Vielzahl durch Belege untersetzter Texte im Internet veröffentlicht worden. Doch auch jetzt zeigte sich kein Interesse, der Leserschaft aktuelleres und vor allem bewiesenes neues Wissen zu unterbreiten. Die in den Potsdamer Tageszeitungen Potsdamer Neueste Nachrichten (PNN) und Märkische Allgemeine Zeitung (MAZ) publizierten Beiträge verdeutlichten zudem einen Rückgang des Niveaus im Vergleich zu in der jüngsten Vergangenheit veröffentlichten Beiträgen.
Fehlanzeige auch bei der SPSG, der Verwalterin von Schloss Cecilienhof, was eine Zusammenarbeit zur Vertiefung des Wissens anbelangt. Dabei konnten neue Erkenntnisse zur Sozialgeschichte des Schlosses im Jahr 1945 gewonnen werden.
1960 veröffentlichte das United States Government Printing Office in Washington die zweibändige Quellenedition „The Conference of Berlin (The Potsdam Conference) 1945”. Auf über 3.000 Seiten wurden Dokumente und Fakten zur Vorgeschichte der Konferenz, zu ihrer Durchführung und direkten Nachbereitung veröffentlicht. Einen speziellen Anlass für die Publikation, wie diplomatische oder wissenschaftliche Auseinandersetzungen über die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz und über den Umgang mit ihnen durch die Sowjetunion einerseits und die USA und Großbritannien andererseits, scheint es nicht gegeben zu haben.
Diese Quellenedition ist die zweite in einer Sonderreihe der Foreign Relations-Bände über die Konferenzen des Zweiten Weltkriegs, an denen die Präsidenten Franklin D. Roosevelt oder Harry S. Truman sowie die Premierminister Winston Churchill oder Clement Attlee und Generalissimus Josef Stalin teilnahmen. Die erste Publikation dieser Sonderreihe befasste sich mit den Konferenzen von Malta (30. Januar bis 2. Februar 1945) und Jalta (4. bis 11. Februar 1945) und wurde 1955 vom US-Außenministerium veröffentlicht.
Die zwei Bände aus dem Jahr 1960 sind die beste Grundlage für eine differenzierte Betrachtung der Vorgeschichte der Konferenz. Es war der eindeutige Wunsch des britischen Premierministers Churchill, der zu ihrer Einberufung führte. Für Stalin waren offensichtlich bereits in Jalta die ihn interessierenden Fragen zur Nachkriegsordnung in Europa und vor allem in einem besiegten Deutschland geklärt. Die sowjetischen Truppen hatten im Verlauf ihres Vormarsches zudem Tatsachen geschaffen, die er nicht rückgängig zu machen gedachte. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte umgab die Sowjetunion ein Sicherheitskordon von Ländern, in denen ihre Truppen und Politiker das Sagen hatten.
Eine deutsche Version der US-amerikanischen Quellenedition gibt es nicht. Ebenso auch keine sie ergänzende Veröffentlichung aus der Sowjetunion bzw. Russland oder Großbritannien. Ergänzungsbände mit Dokumenten zur organisatorischen Vorbereitung und Durchführung der Konferenz oder mit den Erinnerungen von an der Konferenz beteiligten Personen erschienen nicht. Spezielle Bestände zur „Potsdamer Konferenz“ sind in den Nationalarchiven der drei Großmächte des Jahres 1945 nicht zu finden.
Über die im Internet mögliche Suche nach Archivdokumenten konnten in den USA und Großbritannien in Einzelsammlungen enthaltene Dokumente gefunden und ausgewertet werden. Es kamen Unterlagen zutage, die eigentlich in den offiziellen Archiven hätten liegen und schnell zu finden sein müssen, doch sie wurden mehr oder weniger durch Zufall entdeckt.
Die aktuellste Publikation in deutscher Sprache zur Potsdamer Konferenz und ihrem Umfeld ist die bereits vor dreißig Jahren 1995 erschienene Arbeit „Schloß Cecilienhof und die Potsdamer Konferenz 1945. Von der Hohenzollernwohnung zur Gedenkstätte“. Leider verzichteten die Autoren Frank Bauer und Tony Le Tissier oft auf Hinweise auf die Quellen, aus denen sie ihre Informationen schöpften bzw. Bild- oder Kartenmaterial entnahmen. Das erschwert die Arbeit darauf möglicherweise aufbauender Forschung.
Im Mai 2015, aus Anlass des 70. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, veröffentlichte die Russische Föderation eine Internetdatenbank mit dem Titel „Память Народа 1941-1945“ (Gedächtnis des Volkes). Sie ist Teil einer Aufarbeitung und Veröffentlichung von Dokumenten zur Militärgeschichte von der Zeit Peters des Großen bis zur Gegenwart. 2018 folgte zum 100. Jahrestag der Beendigung des Ersten Weltkrieges das Internetportal „In Erinnerung an die Helden des Ersten Weltkriegs 1914-1918“.
Die Konferenz in Potsdam spielt in „Gedächtnis des Volkes“ keine Rolle. Dabei hat der russische Präsident Wladimir Putin am 19. Juni 2020 ihre Bedeutung für die aktuelle Situation unterstrichen: „Die Siegermächte hinterließen uns ein System, das zur Quintessenz der intellektuellen und politischen Suche mehrerer Jahrhunderte wurde. Eine Reihe von Konferenzen – Teheran, Jalta, San Francisco, Potsdam – legten den Grundstein dafür, dass die Welt trotz der schärfsten Widersprüche seit 75 Jahren ohne einen Weltkrieg lebt.“
Der Text zur Potsdamer Konferenz wird durch weitere Beiträge fortgeführt.
Dr. phil. Volker Punzel studierte und promovierte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. An der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR hielt er ab 1982 Vorlesungen und gestaltete Projekte zur Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Nach 1990 Tätigkeit als Lokalredakteur und Autor von Büchern sowie Beiträgen zur Geschichte. Gründer der GeschichtsManufaktur Potsdam.