Jeder von uns kennt historische Mythen. Einige von ihnen halten wir für interessante Erzählungen (zum Beispiel die „Illias“ von Homer), andere lehnen wir als Propagandainstrumente ab (die „Dolchstoßlegende“), wieder andere versuchen wir mit Leben zu erfüllen („Es war nicht alles schlecht …“). Worüber wir uns in der Regel weniger Gedanken machen, sind die Ursachen ihrer Entstehung, ihre Veränderungen und die Kämpfe um ihre Deutungshoheit.
Genau damit beschäftigt sich das vorliegende Buch von Benjamin Hasselhorn. Insbesondere fragt er nach der Rolle der Geschichtswissenschaft in diesen Prozessen. Dazu klärt er in einem ersten Kapitel die Grundlagen einer Geschichtsmythenforschung. Hier gäbe es derzeit Defizite in der wissenschaftlichen Bearbeitung. Bisher wären vor allem einzelne Mythen untersucht wurden. Durch fehlende Überlegungen und Analysen zu Gemeinsamkeiten von Geschichtsmythen blieben Fragen danach offen, wieso manche Mythen erfolgreich in einer sozialen Gruppe etabliert werden können, andere aber nicht; warum sich manche Geschichtsmythen einem Wandel der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse anpassen, andere wiederum nicht; wieso manchen Mythen sogar ein Wechsel zu einer neuen sozialen Trägergruppe gelingt, anderen jedoch keineswegs und wieso letztlich manche Mythen „verblassen“ oder ganz verschwinden, andere hingegen mitnichten.
Ein Geschichtsmythos wird von Hasselhorn definiert als „eine Erzählung über die Vergangenheit, die in der Gegenwart für eine Gruppe Sinn und Bedeutsamkeit stiftet“. In den drei Kapiteln werden die Mythen zu Wilhelm dem Großen, Bismarck, Martin Luther, Jeanne d‘Arc, Winston Churchill, der Befreiungskriege und der Resistenza unter den oben genannten Fragestellungen analysiert. Gerade diese Mythen seien Beispiele für die Transformationen von Geschichtsmythen, die nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel seien. Für DDR-Bürger sehr nachvollziehbar am Beispiel des Schwenks vom „Fürstenknecht“ Martin Luther zu dessen positiver Deutung und den damit verbundenen vielfältigen Ehrungen und Veranstaltungen mit höchster Repräsentanz im Luther-Jahr 1983. Gerade 2025 ist diese Analyse im Zusammenhang mit den vielfältigen Veranstaltungen zum 500. Jubiläum des Bauernkrieges und den Aussagen zu Ost-West-Unterschieden in den bisherigen Publikationen und Würdigungen besonders aktuell.
Sein letztes Kapitel widmet Hasselhorn der Frage gewidmet, wie ein Geschichtsmythos verschwindet. Dafür gäbe es drei Gründe: Er erfülle die Erfolgskriterien nicht mehr, seine Transformation gelinge nicht: sei es, weil die Gesellschaft sich in ihren Sinnbedürfnissen zu sehr wandele, wodurch die Grenzen der Transformierbarkeit des betreffenden Mythos erreicht würden, sei es, weil die soziale Gruppe, die den Mythos trage, selbst verschwindet, oder wenn er in einem Mythenkampf unterliege.
Im abschließenden Fazit klärt der Autor auch den Unterschied zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsmythos: Es handele sich um zwei unterschiedliche Umgangsweisen mit der Vergangenheit. Mythen seien Erzählungen, die in erster Linie einen Sinn in der Gegenwart stiften und Orientierung geben sollen. Demgegenüber produziere die Geschichtswissenschaft Erzählungen, die in erster Linie die Vergangenheit adäquat rekonstruieren sollen.
Dem Buch ist ein umfangreicher Quellenapparat von über 100 Seiten beigefügt.
Benjamin Hasselhorn: Geschichtsmythen. Die Macht historischer Erzählungen, Europaverlag, München 2025, 373 Seiten, 32,00 Euro.