Das offizielle Dankeschön für Gerhard Löwe stand im vorigen Heft – ich möchte noch etwas nachtragen aus den langen Jahren der Zusammenarbeit. Zum Beispiel: Wie gründet man einen Verlag im Jahre 1946? Gewiß, man brauchte etwas Kapital, eine Lizenz und Papier, aber man brauchte auch einen Buchhalter wie unseren Löwe, umsichtig, vielseitig, unermüdlich, vor keiner Schwierigkeit kapitulierend. Er war schon bei der Weltbühne, als es noch gar keine Weltbühne gab.
Ein paar Zahlen markieren den Anfang: Am 10. Januar 1946 wurde der Verlag der Weltbühne, der damals noch im britischen Sektor von Berlin hauste, beim Bezirksamt Tiergarten registriert – das kostete 5 Reichsmark; am gleichen Tag wurde ein Postscheckkonto mit 50 RM eröffnet und ein Postschließfach für ein Vierteljahr gemietet, 15 RM Gebühren. Am 21. Januar wurde ein Stadtplan gekauft, 5,50 RM; unterm 22. Januar ist eine Karte „Deutsches Reich“ für 1,20 RM ausgewiesen.
Diese Karte hing an der Wand hinter Löwes Schreibtisch, als ich am 1. August 1946 als Redaktionsassistentin bei der Weltbühne in der Mohrenstraße begann. Kurz danach wurde diese Karte durch eine riesige Weltkarte ersetzt; sie war noch für den Generalstab der Naziwehrmacht gedruckt worden. Mit bunten Kartenfähnchen wurde nun der friedliche Vormarsch der kleinen roten Hefte markiert. Die Auflage des dritten Heftes war um 24 500 auf 106 000 Exemplare gestiegen; ein Jahr später, 1947, waren schon 170 000 erreicht. Ein nicht unbeträchtlicher Anteil an diesem Erfolg geht auf Löwes Konto. Was nützt der beste Journalismus, wenn er die Leser nicht erreicht?
Vor mir liegt die erste Liste von Kassenbelegen, beginnend mit dem 10. Januar, abgeschlossen am 19. Februar 1946, und Auszüge aus einer Absatzstatistik der ersten beiden Jahre, die Löwe für den Herausgeber gemacht hat. Hans Leonard hob sie auf. So konnte ich hier mit präzisen Angaben aufwarten. Das paßt zu Löwe: er war immer präzise.
Ein Beispiel dafür: Anfang der fünfziger Jahre gab’s ein finanzielles Tief; das große Absatzgebiet Westdeutschland war verlorengegangen, die Adenauer-Regierung hatte den Vertrieb der Weltbühne verboten. Ein Sparprogramm wurde aufgestellt, unter anderem mußte die Herstellung billiger werden. Transportkosten kann man einsparen, ohne die Qualität der Hefte zu mindern. Die Weltbühne wurde damals in Dresden gedruckt. Leonard gab das Stichwort: Jacobsohn habe in Potsdam drucken lassen, und die Druckerei Stein gebe es noch, außerdem sei es mit der S-Bahn erreichbar. Löwe und ich wurden ausgesandt, um die Möglichkeiten zu erkunden.
Wir trafen uns am Bahnhof Alexanderplatz. Löwe stand schon vor dem Aushang und notierte die Abfahrtszeiten. In Potsdam notierte er die Ankunftszeit, während ich fröhlich auf eine Pferdedroschke zuging, mit der ich stilvoll zum Nauener Tor kutschieren wollte, zur alten Weltbühnen-Druckerei. Löwe dämpfte meine „Traditionsgefühle“ mit dem Hinweis: wir müssen die genauen Wegezeiten herausbekommen, hin zu Fuß und zurück zum Bahnhof mit einer Straßenbahn, sonst stimmen alle Berechnungen nicht. Also liefen wir durch das vom Krieg gezeichnete Potsdam zu Stein. Die Druckerei sah noch aus wie in den zwanziger Jahren, äußerlich. Die Gespräche im Haus blieben ohne Erfolg, die buchbinderische Kapazität reichte nicht für die Weltbühne; sie erschien damals noch mit der aufgeklebten Reklamefahne, auf die wir nicht verzichten wollten.
Wir setzten uns an den alten Schreibtisch in der Meisterbude, an dem schon Jacobsohn mit Wolf Zucker und später Ossietzky mit Rudolf Arnheim die Schlußkorrektur gelesen hatten. Ich hätte dort auch gern gearbeitet. Löwe riß mich aus meinen Träumen: „Wir müssen noch zur Druckerei der ‚Märkischen Volksstimme‘.“ Aber auch dort war kein Platz für die Weltbühne. Der Ausweg führte dann über eine kleine, aber gut eingerichtete Druckerei im Rüdersdorfer Kalkwerk. Hier wurde auch ein Teil der Auflage auf Bibeldruckpapier hergestellt. Fünftausend gingen jede Woche pünktlich über die Grenze: die Adressen alle mit der Hand geschrieben …
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Wenn ich heute an Berliner Kiosken mittwochs nach der Weltbühne vom Dienstag frage, ist sie meistens noch nicht eingetroffen. Ich erinnere mich, daß in grauen Vorzeiten unser Weltbühnen-Löwe in der Nacht vom Montag zum Dienstag auf dem Hof des Hauptpostamtes am Berliner Ostbahnhof stand, um die Auslieferung zu kontrollieren: er hätte sonst nicht ruhig schlafen können. Computer können es.
Nun hat der letzte „Sechsundvierziger“ der Weltbühne sich „zur Ruhe gesetzt“, wie es immer in Dankadressen für Veteranen heißt. Diese abgenutzte Formulierung paßt zum Löwe wie die Faust aufs Auge. Irgendwo wird der Fünfundsiebzigjährige sich schon noch um irgend etwas kümmern, wie er sich in den fast 37 Jahren bei der Weltbühne um uns und um alles gekümmert hat.
„Schön ist die Jugend …“, dieses Lied haben Sie gesungen, wenn Sie angeheitert waren. Erinnern Sie sich noch an die Nacht, als wir auf der Verladerampe des Ostbahnhofs hockten und auf die Weltbühne, die wieder in Dresden gedruckt wurde, warteten? Da haben Sie es auch gesungen – Sie hatten an dem Tag Geburtstag. Mensch, Löwe, Sie waren ein großartiger Kumpel!