Liebe Frau Mary Gerold-Tucholsky!
Nun sind Sie 85! Als ich Sie kennenlernte, waren Sie 60, ich noch nicht 30. Seitdem habe ich Sie mehrmals „befördert“. Denn als Sie mich bei unserer ersten Begegnung im Kurt-Tucholsky-Archiv, Rottach-Egern, Roßwandweg, musterten, dachte ich: Feldwebel. Heute nenne ich Sie: Der Oberst. Das stand und steht nicht im Gegensatz zu Tuchos Geist. In allen seinen „Militaria“-Artikeln bekämpfte er das unfähige, korrupte kaiserliche Offizierskorps und achtete jeden guten Offizier – wenn er einer guten Sache diente. Und Sie, Frau Oberst, befehlen oder vielmehr befahlen einem Heer von Aktenordnern voller Manuskripte, die Sie selbst in mehreren Jahrzehnten in Sachen Kurt Tucholsky angelegt hatten. Ohne Sie wären seine Werke wohl nicht so gut ediert und propagiert worden. Aber das wissen Sie selbst besser als ich.
Sie wissen auch, wieso ich damals bei der ersten Begegnung auf einen Feldwebel kommen mußte. Das Buch „Träumereien an preußischen Kaminen“, in dem eine Art Feldwebel (auf gut preußisch klingt das: „Fellll“) so munter agierte, hatte K. T. einer „jungen Schrumpelhexe“ gewidmet. Einer Dame Gerold, und das waren, das sind Sie! Hexe? Warum nicht? Höchstwahrscheinlich doch auch. Aber Schrumpeln? Die hatten Sie noch mit 60 nicht. Und wenn ich an Sie denke, steht neben Ihnen das Bild von der etwa dreißigjährigen Mary Tucholsky. Damals, als dieses große Gemälde entstand, hießen Sie für kurze Zeit wirklich so. Dann, nach der Scheidung, wieder Gerold. Heute: Mary Gerold-Tucholsky.
Sie legen großen Wert auf den Doppelnamen, und Sie ziehen sich wie eine Schnecke in ihr Haus zurück, nein, Sie zeigen einige Ihrer vielen Stacheln, wenn man Sie als „seine“ Witwe behandelt. Tatsächlich sind Sie auch seine Witwe nicht. Sie sind mehr. Sie sind die Frau, die er immer gesucht, gemeint und verfehlt hat, und Sie sind – ganz unabhängig von ihm – seine geistige Partnerin und Sachwalterin. Ohne Sie – ich wiederhole mich absichtlich – wäre sein Werk, wie wir es heute kennen, vielleicht noch nicht bekannt.
Das Kurt-Tucholsky-Archiv befindet sich nun endgültig in Marbach, Sie sind in ein „Seniorenheim“ umgezogen. Einmal, als ich am Roßwandweg eintraf, verabschiedeten Sie gerade einen Verleger aus den USA und einen Studenten aus Kanada, stellten mich einer künftigen Lehrerin aus Lyon, einer Doktorandin aus Rom und einer Studentin aus Prag vor. Mit diesen teilte ich mir dann die Arbeitsplätze in den oberen Archivräumen. Wer Fragen hatte oder einen Text mit Ihnen besprechen wollte, mußte sich ins Erdgeschoß bemühen. Wissen Sie eigentlich, daß wir Sie zweimal absichtlich auf die Probe stellten? Wir legten Ihnen Texte von Hiller und Jacobsohn vor und wollten wissen, wann Tucholsky das geschrieben und wo er es veröffentlicht haben könnte. Uns war nämlich aufgefallen, daß Sie immer nur fragten. Zitierten wir, warfen Sie ein: „Wann hat Tucholsky das gesagt?“ Oder: „Wo steht das?“ Nun also sollten Sie antworten. Aber Sie schlugen mit einer Frage zurück: „Das soll Tucholsky geschrieben haben? Wie kommen Sie darauf!“
Ob Sie jede seiner Zeilen so sicher kennen, weiß ich nicht. Aber Sie kannten sich erstaunlich gut aus. Nur ließen Sie es nicht immer merken, und niemals (ich wiederhole: niemals) drängten Sie uns Ihre Meinung auf. Oft genug lehnten Sie Schlußfolgerungen ab oder zeigten mit immer neuen Fragen, daß Sie sie mindestens in Zweifel zogen. Aber Sie widersprachen keiner Interpretation, wenn ein Tucholsky-Text sie auch nur annähernd zuließ. Natürlich wußten Sie oder mußten es merken, daß Sie uns mit dieser strengen Zurückhaltung erzogen. Mancher wirft Ihnen deswegen Einengung, gar Manipulation vor. Ich meine das Gegenteil erlebt zu haben. Sie wollten die Wahrheit, meinten aber nicht Ihre Wahrheit, sondern die des Textes und bewunderten diesen, wenn es uns gelungen war, ihm eine neue Sicht, eine Ihnen vielleicht entgangene Nuance zu entdecken. Er – Kurt Tucholskys Text – verband uns mit Ihnen und wahrte zugleich die Distanz. Denn biographische Auskünfte gaben Sie nur, wenn Texte sie förmlich verlangten.
In Erinnerungen schwelgen? Das habe ich bei Ihnen nie erlebt und kann es mir auch nicht vorstellen, obgleich Sie mir im Laufe der Jahre sehr viel erzählt und zu meiner Verwunderung kein Tabu festgesetzt haben. Freilich brauchte es Zeit, aber das ist mit Vertrauen immer so. Auch dafür will ich heute danken. Ich weiß, daß ich im Namen vieler Menschen spreche, die Sie kennenlernen durften und erlebten, wie Distanz, menschliche Würde, Stolz das Leben bereichern, unter anderem weil sie eine Unzahl kleiner Gesten ermöglichen und jeder Wiederbegegnung neuen Wert verleihen. Wie Kurt Tucholsky schrieb: „ER tanzt nach links, ganz allein, und SIE tanzt nach rechts, ganz allein – aber wenn sie sich die Hände reichen, ist doppelt stark, was vorher war.“
Die „Quadrille“, die Tucholsky da (am 16. 1. 1918 in einem Brief an Sie) beschreibt, war das eigentlich immer schon Ihr Lebenstanz? Oder ist sie es erst durch ihn (durch IHN) geworden? Möglicherweise hat er vor allem diesen Tanz mit dem Leben bezahlt, und Sie tilgten seine schlimme Tat, indem Sie so taten, als sei dort – links von ihnen – noch immer einer „ganz allein“ und werde sich in der nächsten Sekunde zu Ihnen wenden. Sie haben ihn wieder auferstehen lassen, und uns haben Sie mit preußischem Fleiß und in preußischer Selbstverleugnung sein Werk erhalten.
Verzeihen Sie, ich habe die Distanz absichtlich nicht gewahrt. Denn uns allen, die wir Sie beide nun auch in seinen Briefen kennenlernen durften, drängt sich noch eine Bitte auf: Die nach Ihren Briefen. Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß und gestatten Sie deren baldige Veröffentlichung.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von Christoph Links.