Gedenktage im Redaktionskalender: das kann zur Routine werden; denn Jahr für Jahr üben sie ihren bestimmenden Zwang aus. Der 8. September aber, den Opfern des Faschismus gewidmet, war und ist für die Weltbühne ein besonderer Tag. Das hat mit der achtzigjährigen Geschichte des Blattes zu tun. Denn die Mehrzahl der Frauen und Männer, die das Gesicht der Weltbühne in den ersten Jahrzehnten prägten, gehören zu den Opfern.
Ossietzky, Mühsam, Berthold Jacob, Hans von Zwehl: sie fielen den Häschern in die Hände und wurden ermordet. Anderen Autoren gelang die Flucht, oft abenteuerlich und in letzter Minute. Rudolf Olden lief mit Skiern über den Kamm des Erzgebirges, während die Polizisten mit dem Haftbefehl vor dem Gerichtsgebäude in Berlin auf den Rechtsanwalt warteten. Hellmut von Gerlach verließ am 5. März 1933 Berlin und erreichte mit falschen Papieren die Schweiz. Die Geflohenen sammelten sich in der „Neuen Weltbühne“, die in Prag und Paris die Arbeit des im März 1933 in Berlin verbotenen Blattes fortsetzte. Die Namen der noch einmal Davongekommenen stehen im „Deutschen Reichsanzeiger“ unter „Amtliches“. Die erste „Ausbürgerungsliste“ wird am 25. August 1933 veröffentlicht. Von den 33 Persönlichkeiten – darunter Wilhelm Pieck und Rudolf Breitscheid –, denen die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und deren „Vermögen eingezogen“ wird, sind zwölf Mitarbeiter der Weltbühne: Alfred Apfel, Georg Bernhard, Lion Feuchtwanger, Hellmut von Gerlach, Kurt Großmann, Emil Gumbel, Alfred Kerr, Otto Lehmann-Rußbüldt, Heinrich Mann, Berthold Jacob, Ernst Toller, Kurt Tucholsky. Es erscheinen noch viele solcher Listen, und die Namenreihen werden länger und länger. Am 1. März 1939 steht in der „Ausbürgerungsliste“ 95 c unter 119 der Name des Lyrikers Alfred Wolfenstein.
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Kurt Tucholsky an Walter Hasenclever, Zürich, 17. Mai 1933: „… Unsere Bücher sind also verbrannt … Dieser Tage stand an der Spitze des Buchhändlerbörsenblattes im Fettdruck: ,Folgende Schriftsteller sind dem deutschen Interesse abträglich. Der Vorstand des Börsenvereins erwartet, daß kein deutscher Buchhändler ihre Werke verkauft. Nämlich Feuchtwanger – Glaeser – Holitscher – Kerr – Ludwig – Heinrich Mann – Ottwalt – Plivier – Remarque – Tucholsky und Arnold Zweig.‘ In Frankfurt haben sie unsere Bücher auf Ochsenkarren zum Richtplatz geschleift. Wie ein Trachtenverein von Oberlehrern …“
Das war der Anfang.
Tucholsky und Hasenclever wählten den Freitod. Tucholskys Leben endete am 21. Dezember 1935 in Göteborg, Schweden. Hasenclever nahm seine Überdosis Veronal im Juni 1940 im französischen Internierungslager Les Milles, am Tage, als das Lager evakuiert werden sollte. Feuchtwanger berichtet darüber in seinem Buch „Unholdes Frankreich“, Mexiko 1942: „Hier lebten wir Woche um Woche, Monat um Monat, mancher sogar Jahre. ,Wir‘ – das waren die politischen Flüchtlinge aus Deutschland, Osterreich und der Tschechoslowakei … Davon hatten rund Zweitausendfünfhundert begründete Ursache, von der Gestapo viel Übles zu befürchten, Walter Hasenclever sogar alles Üble. Er lebte aber wie wir alle in guter Hoffnung, doch noch eines Tages nach Übersee zu entkommen. Statt dessen kamen die Katastrophenmeldungen vom Durchbruch an der Maginot-Linie, vom Zusammenbruch Belgiens und der Niederlande, vom rasanten Vormarsch Hitlers in Nordfrankreich, von der Kriegserklärung Italiens an Frankreich und von der Einnahme Paris‘. Der Rücktritt der französischen Regierung und der Waffenstillstand begruben unsre letzten Hoffnungen; denn niemand konnte damals ahnen, daß der Sieger vorerst nur halb Frankreich besetzen würde … Und drückend stieg mir die Erinnerung auf an das Gespräch gestern an der Steinrampe in der Sonne. ,Fünf Prozent Hoffnung‘, hatte ich gesagt, und ,Wirklich nur fünf Prozent?‘ hatte Hasenclever erwidert. Und jetzt lag er da und war nicht wach zu bekommen. Hatte er den Glauben an den Abgang des Zuges verloren? Oder hätte er einfach die ewigen, schmutzigen Strapazen dieses kümmerlichen, erniedrigten Daseins nicht mehr mitmachen wollen? …“
Zur selben Zeit, im Juni 1940, setzte Alfred Apfel, Rechtsanwalt der „Roten Hilfe“ und der Weltbühne, in Marseille seinem Leben ein Ende. Er hatte ein Visum für die USA in der Tasche; da kam die Nachricht vom Waffenstillstand und dem weiteren Vormarsch der Hitlerwehrmacht – aber nicht das Schiff, auf das er in Marseille wartete …
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Ernst Toller schrieb im Mai 1933 einen offenen Brief an Joseph Goebbeis („Braunbuch“, Basel 1933), darin heißt es:
„Es genügt Ihnen nicht, die zu quälen, die Sie in Ihre Gefängnisse und Konzentrationslager kerkern, Sie verfolgen selbst die Emigranten durch die mannigfachen Mittel Ihrer Gewalt. Sie wollen sie (um in Ihrer Sprache zu reden) geistig und physisch ,brutal und rücksichtslos vernichten‘. Diese Männer glauben an eine Welt der Freiheit, der Menschlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, diese Männer sind wahrhafte Sozialisten, Kommunisten oder gläubige Christen, diese Männer sind nicht gewillt, die Stimme der Wahrheit zu verleugnen … Sie sprechen soviel von Heldentum, wo haben Sie es bewiesen? Auch wir kennen ein Heldentum, das Heldentum der Arbeit, des Charakters, des unbedingten Menschen, der zu seiner Idee hält … Wir sind nicht schuldlos an unserem Schicksal, wir haben viele Fehler begangen, der größte war unsere Langmut …“
Das erste Opfer unter den emigrierten Weltbühnenautoren war Theodor Lessing. Er wurde im August 1933 im tschechoslowakischen Marienbad von Faschisten erschossen. Es sollte eine Warnung für die Emigranten sein.
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In teuflischer Absicht gestatteten 1933 die Machtergreifer den aus ihrem Wirkungskreis Verbannten, in Berlin einen „Jüdischen Kulturbund“ zu gründen. Es sind Theaterleute: Dramaturgen, Regisseure, Schauspieler, Theaterkritiker. Zu den Begründern gehörten Julius Bab und Arthur Eloesser.
Wir denken am 8. September auch an Julius Bab, den Berater Siegfried Jacobsohns bei der Gründung der Schaubühne 1905. Bab gelang es, 1939 Deutschland noch zu verlassen; er erreichte Paris, wurde bei Kriegsbeginn interniert, erhielt 1940 ein Visum für die USA. Nach dem Kriege besuchte er die Bundesrepublik. 1954 schreibt er in einem Brief: „Nach Deutschland (wo ich viel ‚bequemer‘ leben könnte) will ich nicht zurück. Zuviel ungehängte Mörder laufen dort herum, und ich möchte nicht in die Lage kommen, unwissentlich dem Mann die Hand zu schütteln, der etwa die kleinen Kinder meiner Nichte in die Gaskammern gestoßen hat. Ich bin überzeugt, er ist heute ein Ehrenmann in Bielefeld oder Gelsenkirchen.“
Wir denken an Leo Menter, den Weggefährten der ersten Jahre der 1946 wiedererstandenen Weltbühne. Bis 1939 verwaltete er die Bibliothek im „Jüdischen Kulturbund“; im Krieg war er dann Gleisbauer bei der „Organisation Todt“. Auf meine Frage „Warum hat die Hitlerregierung den ‚Jüdischen Kulturbund‘ eigentlich gestattet?“ – Leo Menters Antwort, sarkastisch: „Da hatten sie uns doch alle bestens unter Kontrolle.“ Bis die Züge dann ab 1941 pausenlos in die Vernichtungslager rollten …
Wir denken an Arthur Eloesser, dem das Schicksal der sechs Millionen Juden in Auschwitz, Theresienstadt und anderswo erspart blieb: er starb am 14. Februar 1938 im Jüdischen Krankenhaus in Berlin, 68 Jahre alt. Das Bild des Freundes und Mitarbeiters von Siegfried Jacobsohn ist für uns Nachgeborene schon undeutlich geworden. Auch dieser außergewöhnliche Schriftsteller gehörte zu den Verfemten jener dunklen Jahre.