Anfang August fand man nahe der eingestürzten Carola-Brücke in Dresden eine britische Bombe. Fünf Zentner schwer. Es war inzwischen der vierte Blindgänger dort. Siebzehntausend Menschen mussten ihre Häuser verlassen, fünfhundert Einsatzkräfte – inklusive der des Kampfmittelbeseitigungsdienstes (solche Worte können nur Deutsche erfinden) – waren in Bewegung. Die Medien sorgten dafür, dass alle Welt davon erfuhr. Der Sprengmeister hielt nach getaner Arbeit den von ihm entfernten Zünder in die Kamera und erklärte auf Sächsisch, warum diese Fliegerbombe nicht detoniert war wie die vielen Tausend anderen, die vor achtzig Jahren auf Dresden geworfen worden waren.
Meldungen wie diese führten uns wieder vor Augen, dass jener Krieg noch immer nicht beendet ist. Und trotzdem sollen wir schon für den nächsten präpariert, also „kriegstüchtig“ gemacht werden. Vermutlich – wir erinnern uns an Karthago – wird es nach diesem Krieg aber niemanden mehr geben, der Blindgänger aus dem verseuchten und verstrahlten Uferschlamm der Elbe kratzen wird.
Der Krieg, der damals nach sechs Jahren endete, war ein Weltkrieg. Da wir jedoch gewohnheitsmäßig die Welt eurozentrisch wahrnehmen, ist für uns am 8. Mai 1945 die Angelegenheit erledigt gewesen. Ja, es gab noch die beiden Atombombenabwürfe auf Japan, doch das waren schon Nachwehen. Dass das faschistische Japan bereits vierzehn Jahre lang und dann noch immer Krieg in China führte, kommt in hiesigen Betrachtungen kaum vor. Folglich auch nicht, dass dabei vermutlich 35 Millionen Chinesen ihr Leben verloren. Die Zahl ist geschätzt, denn im Unterschied zum christlichen Abendland, wo die Barbaren genau Buch über ihre Verbrechen führten, geschah dies in Asien nicht. Das sonst so akkurate japanische Kaiserreich, seit 1936 mit dem Hitlerreich durch den Antikominternpakt verbunden, zählte allenfalls die eigenen Toten, nicht aber die Opfer seines Vernichtungs- und Eroberungskrieges auf dem Kontinent. Der in Tokio übrigens bis heute nicht als Krieg, sondern als „Zwischenfall“ bezeichnet wird.
Diese vierzehn Jahre von 1931 bis 1945 bestanden nur aus Zwischenfällen: Am 18. September 1931 jagten Agenten der im Nordosten Chinas stationierten Kwantung-Armee die Gleise einer Eisenbahnlinie in die Luft. Die Kolonialmacht Japan hatte 1904 die Kolonialmacht Russland aus der Mandschurei vertrieben und beförderte über diese Strecke die geraubten Rohstoffe in ihre Kolonie Korea. Die Kwantung-Armee – einige Zehntausend Soldaten – „schützte“ den Transportweg und inszenierte einen Anschlag bei Mukden (heute Shenyang), um die darauf folgende Besetzung des chinesischen Nordostens zu begründen. Tokio rief dort den Vasallenstaat Mandschukuo aus – das annektierte Gebiet war doppelt so groß wie das heutige Deutschland. Der Versuch, nach Norden zu expandieren, endete mit einer Niederlage, die ihnen Shukow und die Rote Armee zugefügt hatte.
Also wandte man sich nach Süden. Und inszenierte den nächsten „Zwischenfall“ am 7. Juli 1937 an einer – von Europäern als Marco-Polo-Brücke bezeichneten – Überführung eines Flusses bei Beijing. Die dort liegenden japanischen Truppen beschossen die Chinesen auf der gegenüberliegenden Seite, weil diese angeblich einen der ihren entführt hatten. Danach setzte sich die Kriegsmaschinerie des Kaisers in Bewegung, um die 1912 gegründete Republik China vollständig zu besetzen. Die Kommunistische Partei rief alle Chinesen zum gemeinsamen Widerstand auf. Den gab es bis dahin nur punktuell: Nationalisten und Kommunisten hatten es vorgezogen, jahrelang ihre Energie im Kampf gegeneinander zu vergeuden.
Die so formierte antifaschistische, antijapanische Front hielt bis zum 9. September 1945, bis zur Kapitulation der japanischen Truppen in China. Dann erst war der Zweite Weltkrieg zu Ende! Zuvor hatten die Japaner die Stätten ihrer Untaten zerstört, ihre Spuren verwischt, Beweise ihrer unzähligen Verbrechen vernichtet, einige Tausend Tonnen Giftgas vergraben, deren Lagerorte zum großen Teil bis heute unbekannt sind und hin und wieder für Unfälle sorgen.
In Harbin hinterließen sie auch die Trümmer eines Gefängnisses, deren Insassen für medizinische Experimente missbraucht worden waren: ein gemauerter Kasten mit zwei Quergebäuden im Innern, den Spezialgefängnissen Nr. 7 und 8, getrennt nach Geschlechtern. Daneben die Kommandozentrale der „Einheit 731“, wo die Befehle erteilt wurden für widerliche Menschenversuche innerhalb und außerhalb des Gefängnisses. Man „testete“ Krankheitserreger von Pest bis Milzbrand, setzte infizierte Flöhe und Ratten aus, ließ Menschen mit Typhuskeimen versetzte Lebensmittel verzehren (und filmte das auch noch, um die Mahlzeiten als Spende propagandistisch auszuschlachten). Die schrecklichen Ärzte sperrten ihre Opfer in Kälte- und Unterdruckkammern und setzten sie Detonationen aus, um festzustellen, wann die körperlichen Funktionen versagten. Sie kippten chemische Kampfstoffe in Brunnen und Flüsse und versprühten sie mit Flugzeugen über den Feldern …
Es waren Teufel, sagt Gao Peng, der uns durch die dunklen Hallen des Museums in Harbin führt, einer der vielen neuen, oft architektonisch spektakulären Erinnerungsstätten in der Volksrepublik. China arbeitet seine Geschichte auf, auch jenen finsteren Teil, über den man lange Zeit keine Worte verlor. Der Verlust so vieler Landsleute wurde als Niederlage empfunden, als kollektives Versagen. Deshalb wurde darüber der Mantel des Schweigens gebreitet. Das sieht man heute anders. Und zeigt, wohin es führen kann, wenn Kriegstreibern, Rassisten und Nationalisten nicht zuvor Grenzen aufgezeigt werden.
Das Licht fällt ausschließlich auf die Exponate an Wänden, Decken und im Boden unter dickem Glas. Medizinische Gerätschaften, Granaten, Fotos, Mikroskope, Tagebücher, Dokumente. Auf Monitoren laufen Videos: Die letzten Zeugen reden, die meisten sind inzwischen nicht mehr. Museumsgründer Jin Cheng Min und seine Mitarbeiter waren seit 1982 in Japan unterwegs; auch ehemalige japanische Soldaten, die den Weg nach Harbin fanden, setzten sich vor die Kamera. Zu fast jedem Exponat kann Gao Peng etwas erzählen: Die Granate dort hat der Chef einem Japaner abgekauft, das Tagebuch hier hat er von einem Bauern, der es auf seinem Feld beim Rückzug der Japaner gefunden hat … Die Kollektion ist beeindruckend. Über 13.000 Exponate.
In einem Saal wird auch an den Prozess gegen zwölf Mitglieder der Kwantung-Armee erinnert, darunter acht Mediziner der Einheit 731. Das Verfahren fand 1949 in Chabarowsk statt, jenseits der chinesisch-sowjetischen Grenze und noch vor Gründung der Volksrepublik, denn Opfer der Kriegsverbrechen waren nicht nur Chinesen und Koreaner, sondern auch gefangene Rotarmisten. Moskau war an einem internationalen Militärtribunal interessiert, ähnlich dem in Nürnberg. Doch der Kalte Krieg tobte bereits. Die Versuche der Sowjetunion, die Weltöffentlichkeit für dieses Thema zu interessieren, wurden insbesondere von den USA als kommunistische Propaganda abgetan. Der Hintergrund vermutlich: Viele japanische Biowaffenspezialisten arbeiteten bereits in den USA, der für die biologische Kriegführung in China verantwortliche General Ishii Shiro und andere Kriegsverbrecher genossen Immunität.
An der Museumswand hängt eine Übersicht, was aus den skrupellosen Medizinern nach 1945 geworden ist. Ihre Karrieren liefen ohne Delle weiter. Wir kennen das. 2002 erst bestätigte ein Gericht in Tokio erstmals, dass es die Einheit 731 überhaupt gegeben hatte und dass sie tatsächlich Verbrechen verübt hat.
Das Museum ist stark frequentiert, in Gruppen und einzeln laufen die Besucher schweigend durch die Hallen; Brigaden und Delegationen, Rentner, Studenten, Schüler, Ehepaare. Am 5. April 2023, dem ersten Tag nach der Corona-Schließung, hätten sie rund 19.000 Besucher begrüßt, sagt Gao stolz. Vor acht Jahren, als der neue Museumsbau öffnete, betrug der Tagesdurchschnitt etwa die Hälfte.
Kommen auch Ausländer, etwa Japaner? Ja, sagt er, viele reagierten entsetzt, weil sie nichts davon wussten, allenfalls geahnt hatten.
Und er? Er dürfe seine Empfindungen nicht zeigen, antwortet Gao, er präsentiere neutral und sachlich.
Warum kommen so viele Menschen hierher? Es kann doch nicht allein daran liegen, dass der Eintritt gratis ist?
Er spüre ein wachsendes Interesse seiner Landsleute an diesem Teil ihrer Geschichte. Sie wollen wissen, woher sie kommen und auf welchen Schultern sie stehen. Es gehe aber nicht nur um die Erinnerung. Der Ort sei Mahnung und Warnung zugleich. Man müsse aufpassen, dass die Teufel nie wieder Gelegenheit zu einem Festmahl bekämen, sagt er chinesisch-blumig.
Wir verlassen den Betonbau und gehen durch einen Tunnel hinüber zum ehemaligen Hauptquartier der Einheit 731 und den Ruinen des Gefängnisses. Davor dehnt sich ein schotterbedeckter weiter Raum, den Appellplätzen in Buchenwald oder Dachau ähnlich. Eine Viertelmillion Quadratmeter, die einst weltweit größte Militärbasis zu Produktion und Erprobung biologischer Waffen. 2012 beantragte China, diesen einzigartigen Gedenk- und Mahnort auf die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes zu setzen. Die Entscheidung steht noch aus. Japan und die USA sind dagegen.
The Museum of War Crime Evidence by the Japanese Army Unit 731, Xinjiang Street, Pingfang District, Harbin.