Die Busfahrt nach Agrigento führt vorbei an Artischockenplantagen. Die Ernte ist jetzt, in der ersten Maiwoche, bereits abgeschlossen. Auch Melonen- und Erdbeeranbau erfolgen hier in großem Stil und mit Hilfe provisorischer „Gewächshäuser“, unter etwa einen Meter hohen Plastikabdeckungen. Und wo Rebstöcke unter ähnlichen Abdeckungen zu sehen sind, wird nicht für die Weinherstellung produziert, sondern für den Verzehr.
Entlang der Strecke – Nester von Weißstörchen auf Strommasten. Zwar nicht, wie vor Jahren in Andalusien gesehen, mehrgeschossig auf Hochspannungsmasten von Überlandleitungen, aber immerhin …
Auf den Fernverkehrsstrecken geht die Fahrt flott voran, doch auf untergeordneten Landstraßen sind die Schlaglöcher bisweilen so groß, dass unser Bus auf Schritttempo gehen muss. Den antiken Griechen galt übrigens Getragenwerden in einer Sänfte bereits als sportliche Betätigung. Insofern sind wir hier nachgerade athletisch unterwegs.
Ab Gela fährt unser Bus die gut ausgebaute Küstenstraße im Süden Siziliens entlang. Immer parallel zum Strand, wenn auch, bedingt durch den Trassenverlauf, nicht durchgängig mit Meerblick.
Nahe Gela und beim weiter westlich gelegenen Licata befanden sich Anlandeplätze der US-Streitkräfte, als amerikanische, englische und kanadische Verbände während des Zweiten Weltkrieges am 10. Juli 1943 mit der Operation Husky, einer kombinierten amphibischen und Luftlandeinvasion Siziliens, ihren Italienfeldzug begannen. Von Seiten der Washingtoner Regierung hatte man sich dafür mittels des US-Ablegers der Cosa Nostra, der sizilianischen Mafia, deren Unterstützung vor Ort versichert. Während die bei Siracusa vorstoßenden anglokanadischen Verbände von Deutschen und Italienern teils in schwere, verlustreiche Kämpfe verwickelt wurden, gelangten die US-Amerikaner durch das Eingreifen der Cosa Nostra nahezu kampflos quer über die Insel und marschierten bereits am 22. Juli in Palermo im Norden ein.*
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Eines der grandiosesten Zeugnisse der Antike auf Sizilien ist zweifelsohne das Tal der Tempel von Agrigento, das – aufgereiht wie auf einer Perlenschnur – acht griechische Tempel versammelt. Zwischen 510 und 430 vor Christus errichtet und heute in unterschiedlichen Erhaltungszuständen. In Sichtweite des Meeres gelegen, signalisierte dieses Ensemble sich von See her annähernden Besuchern schon von weitem einen Ort von großer Macht und mit ebensolchem Reichtum.
Errichtet wurden die Tempel mit ortsüblichem Baumaterial – hier Sandstein. In dessen hell- bis dunkelgelbem Farbton präsentieren sich die heutigen Überreste. Den ästhetischen Ansprüchen der Erbauer jedoch genügte dieses Natursteinoutfit nicht – griechische Tempel wurden vollständig mit weißem Marmorstuck veredelt
Am besten erhalten ist der sogenannte Concordia-Tempel – der Fachwelt zufolge aber wohl eher den mythischen Halbbrüdern Kastor und Pollydeukes (lateinisch: Castor und Pollux) geweiht, denn eine griechische Vorläuferin der römischen Göttin Concordia (Eintracht) gab es nicht. Dieser Tempel, 17 mal 40 Meter messend, verkörpert klassisches griechisches Ebenmaß in Vollendung. Selbst der Dorische Eckkonflikt, mit dem bereits Generationen von Kunstgeschichtsstudenten genervt worden sind, lässt sich hier, so unsere Reiseführerin, trefflich erläutern. Ohne dass wir Laien allerdings wirklich verständen, worum es dabei geht. – Das Fehlen von jeglichen Marmorstuckanhaftungen an diesem Bauwerk wird von der Fachwelt ebenso wie das Nichtvorhandensein irgendwelcher Hinweise auf den üblichen Opferaltar vor dem Eingangsportal als Indiz dafür gewertet, dass der Tempel als solcher nie vollständig fertiggestellt wurde.
Der Bau des gewaltigsten Tempels im Tal wurde zu Ehren des Göttervaters Zeus in der Euphorie nach dem epochalen Sieg einer Allianz von griechisch-sizilischen Stadtstaaten gegen die Karthager in der Schlacht bei Himera im Jahre 480 vor Christus begonnen. Mit seinen Abmessungen (56 mal 112 Meter) war er der größte je gebaute dorische Tempel und der drittgrößte griechische überhaupt. Dazu diese Besonderheit – zwischen den tragenden Säulen an den Außenfronten befanden sich sechs Meter hohe steinerne menschenförmige Figuren, sogenannte Telamone. Einen rekonstruierten dieser Titanen sowie ein Modell des gesamten Tempels bestaunen wir anschließend im archäologischen Museum von Agrigento.
Neben zahllosen beeindruckenden Artefakten demonstriert hier eine zeichnerisch höchst elegante Darstellung des Götterboten Hermes auf einer antiken Keramik, dass die bekannte Denkerpose – Kopf auf eine abgeknickte Hand gestützt, Blick nach innen gekehrt – nicht etwa von Auguste Rodin „erfunden“ wurde, sondern von einem unbekannten griechischen Meister weit über 2000 Jahre früher. Einziger Unterschied: Der antike Künstler ließ auf die linke Hand abstützen (denn Hermes hält in der rechten Pfeil und Bogen), Rodin hingegen auf die andere.
Der berühmteste Agrigenter aller Zeiten übrigens war der um 495 vor Christus geborene Philosoph und Dichter Empedokles, der seinen Zeitgenossen den Spiegel vorhielt. Sicher, ohne zu ahnen, dass sich manches an denen in den nächsten zweieinhalbtausend Jahren nur noch verschlimmern würde: „Sie speisen, als ob sie morgen sterben, und sie bauen, als ob sie ewig leben würden.“ Die Verbreitung von Adipositas und Hybris beim Bauen haben seither ja nachweislich deutlich zugenommen.
Empedokles‘ unorthodoxes Denken und Leben – er verabscheute Krieg und Gewalt und lehnte den Genuss von Fleisch ab – bereitete ihm im Übrigen, auch das ein Kontinuum bis ins Heute, manches Ungemach; gestorben ist er 435 deswegen weit weg von Sizilien: Auf dem Peloponnes. Im Exil.
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Nächster Halt – Selinunte. An der Strecke dorthin erst Orangenplantagen, dann, als die zuvor durchweg sehr hügelige Landschaft zunehmend abflacht, Olivenhaine. Zu dieser Jahreszeit gibt es auf den Märkten die letzten frischen Orangen der Saison, die ersten Aprikosen und als regionale Spezialität – die Früchte des Mispelbaumes, ein Kernobst aus der Familie der Rosengewächse. Die etwa pflaumengroßen, orangenen Fruchtkörper haben ein säuerliches, nicht zu süßes Aroma. Und auch wenn man die Schale mit den Finger entfernen muss, was eine klebrige Angelegenheit ist – köstlich!
Direkt neben unserem Hotel in Selinunte bezeugt – wie an vielen anderen Stellen während unserer Reise – eine mehrstöckige Investruine eine von der Cosa Nostra gern bemühte Masche der Geldbeschaffung: Bauprojekte starten, Fördergelder kassieren und – finito.
Auf dem Weg zum Steinbruch von Selinunte passieren wir Campobello, ein gesichtsloses Örtchen, aber vielleicht gerade deshalb 30 Jahre lang der Unterschlupf von Matteo Messina Denaro (zu deutsch – Geld), dem Capo dei Capi (oberster Boss) der sizilianischen Cosa Nostra. Mutmaßlich beteiligt an 50 Morden, darunter an den Attentaten auf die Antimafia-Richter Giovanni Falcone und Paolo Borselino, die 1992 Italien erschütterten. Gefasst wurde Denaro erst, als er sich wegen einer Krebserkrankung einer Chemotherapie unterziehen wollte und deswegen seinen Unterschlupf verließ. Das war 2023. Der Mafiaboss verstarb noch im selben Jahr.
Im Steinbruch schließlich stehen wir vor halbfertigen, noch mit dem hier gewachsenen Tuffstein verbundenen Säulentrommeln von bis zu vier Metern Durchmesser und Höhe sowie einem Gewicht von wer weiß wie vielen Tonnen. Wir haben keine Vorstellung, wie die von Menschenhand erst aus dem Fels gehauen, dann dreizehn Kilometer weit über Land transportiert und auf den Baustellen bis in Höhen von 15 und mehr Metern übereinandergeschichtet werden konnten. (Frühe, archaische dorische Säulen waren noch „am Stück“ aus dem Fels gesteinmetzt worden, ehe man darauf kam, sie aus fünf oder mehr Elementen, den sogenannten Trommeln, übereinanderzuquadern.) Das war die Fron zig-Tausender Sklaven (Kriegsgefangener oder auf Kriegszügen zielgerichtet erbeuteter Menschen); in Selinunte sollen im sechsten vorchristlichen Jahrhundert von 120.000 Bewohnern nur um die 20.000 freie Bürger gewesen sein …
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Die Küstenstadt Marsala markiert den westlichsten Zipfel Siziliens. Der hier produzierte gleichnamige Süßwein, von dem es gleichwohl auch trockene Varianten gibt, verdankt seine internationale Karriere ebenso wie seine Geschwister aus dem lusitanischen Porto und dem spanischen Jerez de la Frontera dem Jieper der Engländer auf derartige Getränke. (Deren Zungen kamen in nüchternem Zustand zwar mit den Namen der ersteren beiden klar, nicht jedoch mit Jerez, weswegen daraus bekanntlich Sherry wurde.)
Der Dom Marsalas, der während der Normannenherrschaft auf Sizilien erbaut wurde, ist erstaunlicherweise San Tommaso di Canterbury gewidmet, dem heiligen Thomas Beckett – gegen Ende seines Lebens (1118 – 1170) Erzbischof von Canterbury. Beckett wurde auf Geheiß seines Königs, Heinrichs II. von England, gemeuchelt. Unter des letzteren Kindern (die Mutter war die legendäre Eleonore von Aquitanien) waren nicht nur weitere spätere englische Könige (Richard Löwenherz, Johann ohne Land), sondern auch eine Tochter namens Johanna, die die Aversion des Papas gegen Beckett nicht nur nicht teilte, sondern diesen verehrte. Nachdem sie im juvenilen Alter von 13 Jahren Wilhelm II., dem letzten ordentlichen Normannenkönig von Sizilien, genannt der Gute, anvermählt worden war, sorgte sie dafür, dass Beckett mit dem Dom von Marsala ein dauerndes Denkmal errichtet wurde.
Ein Ehrenplatz im historischen Gedächtnis der Sizilianer dürfte Marsala aber vor allem wegen des 11. Mai 1860 zustehen: An diesem Tage landete Garibaldi, der Revitalisierer, Befreier und Einiger Italiens, mit zwei Kriegsschiffen sowie 1000 Mitstreitern in der Stadt und begann von hier aus seinen Siegeszug zur Vertreibung der verhassten Bourbonenherrschaft von der Insel.
In der weitenteils quasi fußläufigen, weil sehr flachen, in anderen Bereichen jedoch von Kitesurfern – allein am Tag unseres Besuches sind hunderte auf dem Wasser – heftig frequentierten Lagune von Masala gibt es mehrere kleine Inseln. Darunter Mozia. Nur etwa einen Quadratkilometer klein. Vom achten bis vierten vorchristlichen Jahrhundert besiedelt und von einer bis zu neun Meter hohen Stadtmauer wehrhaft eingefriedet. Ein künstlich angelegter Damm verband das Eiland mit dem Festland, wo sich die ausgelagerte Nekropole befand. Von erhöhten Uferpunkten der Insel aus lässt sich der Damm als helle Linie unter der Wasseroberfläche heute noch gut erkennen. Zugleich Zeichen dafür, dass sich der Meeresboden um die Insel seit der Antike tektonisch abgesenkt hat.
Im Jahre 409 vor Christus unternahmen die Karthager einen Rachefeldzug gegen sizilianische Städte, um endlich die Schmach ihrer Niederlage von Himera zu tilgen. Dabei wurde auch Mozia verheert und nachfolgend praktisch nie wieder besiedelt. Zur Freude neuzeitlicher Archäologen, die dort auf den durchaus seltenen Fall einer unüberbauten antiken Siedlung stießen. Abgeschlossen sind diese Arbeiten noch längst nicht.
1979 wurde die Insel bei einer Grabungskampagne italienischer Archäologen zum Fundort des sogenannten Jünglings von Mozia. Unsere Reiseführerin erinnert sich, als junge Kunststudentin Ende der 1980er / Anfang der 1990er Jahre in einer Zeitschrift für Archäologie und Kunstgeschichte einen Beitrag über diesen Sensationsfund gelesen zu haben – mit dem Titel: „Der schönste Hintern“ der Antike. Keine Übertreibung: Es handelt sich um eine vollendet ebenmäßige lebensgroße Marmorskulptur – bekleidet mit einem knöchellangen, fein plissierten Gewand, das vom wohlgeformten Körperbau des Mannes mehr enthüllt als es verbirgt. Anlässlich der Olympischen Spiele 2012 nach London ausgeliehen und nachfolgend auf Tour in den USA, um Werbung für Sizilien zu machen, präsentiert sich der Jüngling heute wieder auf einem erdbebensicheren Podest im kleinen archäologischen Museum auf Mozia, das vom Festland aus stündlich per Passagierboot zu erreichen ist.
Ein weiteres solitäres Exponat des Museums ist die Terrakotta-Maske eines breit grinsenden Mannes aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert, die im Tophet von Mozia gefunden wurde.
* – Eine ausführliche Darstellung der Vorgänge findet sich bei Klaus Polkehn / Horst Szeponik: „Wer nicht schweigt, muss sterben. Ein Tatsachenbericht über die Mafia“, erschienen 1968 im Militärverlag der DDR. Die US-Regierung bedankte sich nach Ende des Krieges für die Hilfe des organisierten Verbrechens, indem sie den aus Sizilien stammenden Gangsterboss Lucky Luciano, der eine 30-jährige Gefängnisstrafe absaß, vorzeitig aus der Haft entließ – wegen seiner „Verdienste um das amerikanische Volk“ – und nach Italien abschob. Von wo aus er wahrscheinlich noch bis zu seinem Tode (1962) im internationalen Drogenhandel tätig war.