Es ist anscheinend modern geworden, die Möglichkeiten der militärischen Elemente der Sicherheitspolitik zu überbetonen. Aber im politischen Diskurs um Krieg und Frieden sollten wir nicht von einem Extrem ins andere verfallen.
Ja: Ein Staat sollte sich verteidigen können und seine Streitkräfte so ausrüsten, dass sie einer Aggression standhalten oder besser noch: Andere Staaten nicht auf die Idee kommen, eine solche zu versuchen. All dies kostet. Wer aber nun fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung ausgeben will, der muss dies nicht nur sauber sicherheitspolitisch herleiten, sondern auch sagen, woher denn die zusätzlichen 120 Milliarden Euro jedes Jahr kommen sollen – und welche Konsequenzen dies hat.
Das Streben nach selbst noch so berechtigter Sicherheitsvorsorge kann letztlich dazu führen, die Unsicherheit zu verstärken. Diese Gefahr eines „Sicherheitsdilemmas“ muss ebenfalls und gleichrangig mitbedacht werden. Deshalb sollten wir besondere Aufmerksamkeit widmen, in welchem Kontext die Argumente für Aufrüstung eingebettet, wie sie „geframet“ werden. Zudem ist nach der Ukraine- die Nahostkrise der zweite Fall, bei dem sehr viele unreflektiert und in erschreckender Eindimensionalität und Schlichtheit auf die Militärkarte setzen.
Ein militärisches Gleichgewicht ist zweifellos ein notwendiges, aber kein hinreichendes Element, um Frieden zu sichern. Denn ohne ein wirksames Bemühen, das militärische Gleichgewicht politisch zu stabilisieren und dem Einsatz für Abrüstung und Rüstungskontrolle wird es keine Sicherheit geben. So offensichtlich dies erscheinen mag, sind diese Essentials aber vielfach aus dem Blick geraten.
Insofern ist das Gerede von der „Kriegstüchtigkeit“ überzogen und trifft nicht den richtigen Punkt, um den es wirklich geht. Die beschworene „Kriegstüchtigkeit“ scheint eher dem sicherheitspolitischen Zeitgeist und dem Rechtfertigungszwang für eine weitere – unangemessene – Erhöhung des Verteidigungshaushaltes geschuldet zu sein, als einer sachlichen sicherheitspolitischen Bestandsaufnahme jenseits von Alarmismus und ideologisch getriebenem Konfrontationsdenken.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich der deutsche Verteidigungshaushalt mehr als verdoppelt. Die NATO ist ohnehin ungleich stärker als jeder potentielle Gegner. Ihr Rüstungsbudget beträgt etwas das Zehnfache der russischen Militärausgaben.
Deutschland sollte mithin ein realistisches Verständnis seiner außenpolitischen Verantwortung entwickeln, die seiner Bedeutung entspricht. Das geht weit über die aktuellen Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten hinaus, hat aber doch Berührungspunkte mit ihnen.
Sicherheitspolitik in einer Welt voller Komplexität und Dynamik bedarf eines umfassenden und vernetzten Ansatzes, der die relevanten Instrumente, Interessen und Akteure verknüpft und ausbalanciert. Sie muss unter den gegebenen Bedingungen einer demokratischen Gesellschaft agieren, die nur noch wenig übrig hat für Helden-Opfer, Pathos und große Kriegserzählungen.
Militärische Handlungsfähigkeit ist und bleibt zwar unverzichtbar, reicht jedoch nicht allein und sollten mit großer Demut und nur mit einem klaren politischen Zweck eingesetzt werden. Die Bilanz bisheriger Militäreinsätze lehrt Bescheidenheit und Zurückhaltung.
In gewisser Weise droht die aktuelle deutsche Sicherheitspolitik das Kind mit dem Bade auszuschütten. Daher sollte Deutschland zu einer verantwortungsvollen, ausbalancierten, friedensorientierten und zugleich realistischen Sicherheitspolitik zurückfinden. An deren erster Stelle muss eine Politik des Interessenausgleichs, der diplomatischen Tugenden, der Verlässlichkeit und der Rüstungskontrolle stehen.
Wir dürfen Deutsche Sicherheitspolitik deshalb nicht den „Kriegsertüchtigern“ überlassen. Es muss vielmehr darum gehen, Friedensfähigkeit – nichts weniger ist Auftrag in der Präambel des Grundgesetzes – breit getragen mit Verteidigungsfähigkeit und wirksamer Abschreckung zu verbinden. Kriegstüchtigkeit ist in diesem Sinne das Unwort des Jahrzehnts.
Professor Johannes Varwick, Jahrgang ’68, ist Lehrstuhlinhaber für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und 2024 Präses des Wissenschaftlichen Forums für Internationale Sicherheit (WIFIS).
Beitrag aus der Senderreihe „Politisches Feuilleton“, Deutschlandfunk Kultur, 03.07.2025. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.