Auch ich war einst ein Thälmann-Pionier. Der Name dieses Mannes, Ernst Thälmann, ist in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts fest eingeschrieben.
Wenn heute viele Thälmannstraßen anders heißen, die Denkmale abgeräumt und so mancher Betrieb, der diesen Namen trug, verschwunden ist, so bleibt er doch, was er Zeit seines Lebens war: eine bedeutende Figur der deutschen und internationalen kommunistischen Bewegung.
Der Biograph als Historiker hat sich nicht zuerst um Legenden, die sich noch um jede Person der Zeitgeschichte ranken, zu kümmern. Er hat die Aufgabe, mit wissenschaftlicher Akribie den durch Quellen belegten Lebensweg Thälmanns nachzuzeichnen. Das tut Ronald Friedmann auf über 500 Seiten. Er hat umfangreiches Quellenmaterial gehoben, erstmals in diesem Umfang, und manches erstmals öffentlich gemacht. So entsteht beim Lesen das Bild des Menschen Ernst Thälmann, mit dem Respekt gezeichnet, der jedem Menschen gebührt. Der Nutzen für alle, die wie ich mit der Legende von „Teddy“ lebten, liegt aber eben nicht in deren Verblassen, sondern im Erkennen der Umstände, unter denen Thälmann geworden ist, was er war. Man kann wohl sagen: Ernst Thälmann bekommt so erst seine Würde als Mensch zurück.
Gezeigt werden die Umstände des Lebens als deutscher Kommunist im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm). Der Historiker als Biograph interessiert sich genau dafür. „Denn Thälmann und die KPD waren eingebunden in ein System politisch-ideologischer und materieller Abhängigkeiten, das sich vor allem in Gestalt der Kommunistischen Internationale, aber auch in einer kaum zu überschauenden Vielzahl personaler Netze zeigte, die von Stalin und anderen Moskauer Spitzenfunktionären über Jahre hinweg in aller Welt gesponnen und gepflegt wurden.“ (Einleitung)
Friedmann sieht in dieser Einbindung der KPD den entscheidenden Punkt für den „erstaunlichen Aufstieg Thälmanns zum bekanntesten und einflussreichsten deutschen Kommunisten der Weimarer Republik, obwohl Thälmann weder über die notwendige Bildung verfügte noch die charakterliche Eignung besaß, um seiner selbstgewählten Rolle als ‚Führer der Partei‘ und ‚Führer des deutschen Proletariats‘ tatsächlich gerecht werden zu können.“ (Einleitung)
Mit dem Buchtitel „Wenn Moskau das so will …“ setzt Friedmann einen psychologischen Punkt. Er sieht letzten Endes in Thälmanns Unzulänglichkeiten, er sei Moskau, also Stalin gegenüber, steuerbar, willig und widerspruchslos gewesen, den Grund, dass er protegiert und, weil es der sowjetischen Außenpolitik nutzte, dann auch im Gefängnis bis zu seiner Ermordung verbleiben musste.
Friedmann setzt noch einen drauf. Für eine abschließende Wertung sieht er den maßgeblichen Beitrag Thälmanns zur Zerstörung der innerparteilichen Demokratie, zur Bolschewisierung der KPD in der Zwischenkriegszeit. Bis 1933 gebe es nichts, was eine Ehrung oder Würdigung Thälmanns gerechtfertigt hätte.
Wow, das ist harter Tobak. Man könnte darum Friedmann des latenten Antikommunismus verdächtigen. Das trifft aber nicht zu. Ronald Friedmann ist Mitglied des Sprecherrates der Historischen Kommission der Linkspartei und geradezu paradox für einen Historiker, aber nicht unüblich in der Zunft, Opfer dessen geworden, was man in der Psychologie den „Rückschaufehler“ nennt. Man sitzt der Illusion auf, die Vergangenheit zu verstehen. Das Gehirn denkt sich Narrative über die Vergangenheit aus. Rückschaufehler sind umso größer, je schlimmer die Folgen. Rückschau ist besonders unfreundlich gegenüber Entscheidern, notiert Nobelpreisträger Daniel Kahneman in seinem Buch über menschliches Denken 2011. Hätte Friedmann die Umstände des Lebens Ernst Thälmanns nur etwas weiter gefasst, eines Lebens, das für ihn von Anbeginn Klassenkampf ums tägliche Brot, Welt- und Bürgerkrieg und wieder Weltkrieg war, ein Leben in der politischen Welt von Carl Schmitt, die nur Freund und Feind kannte, nicht wirklich Demokratie, schon gar nicht in Parteien, hätte Friedmann es bei der Lebensbeschreibung belassen können. Die Wertungen tun nichts dazu.
Neu herausgearbeitet hat Ronald Friedmann einiges. So war für mich, ich nenne hier nur einige Beispiele, überraschend, dass es im Sommer 1925 keinen Machtkampf von Thälmann gegen Ruth Fischer / Arkadi Maslow gab. Thälmann strebte nicht an die Spitze der KPD. Er musste zum Jagen getragen werden. Alle Initiative ging von Moskau aus. Die „Arbeitergruppe“ um Thälmann war nur eine Fiktion, das dürfte Stalin gewusst haben.
Dass der Kampf gegen den „Sozialfaschismus“, also die Sozialdemokratie, keine Episode in der Geschichte der KPD war, sondern spätestens ab 1928 bis weit in das Jahr 1934 hinein der politische Schwerpunkt der KPD ist meines Erachtens so auch noch nicht dargestellt worden. Thälmann selbst habe, schreibt Friedmann, mehrfach erklärt, dass die SPD eine größere Bedrohung als die Nazipartei sei und dass die Vernichtung der Sozialdemokratie die Voraussetzung für den Kampf gegen Hitler sei.
Thälmann ist in den elf Jahren Haft von 1933 bis 1944 standhaft geblieben. Auch als ihm klar wurde, dass es keine Chance auf Rettung durch Stalin gab, war er nicht bereit, sich mit einer antikommunistischen Erklärung die Freiheit zu erkaufen. Neu dürfte sein, dass er andererseits auch zu keinem Zeitpunkt bereit gewesen war, öffentlich – zum Beispiel mit einer Erklärung an den Siebten Weltkongress der Kommunistischen Internationale im Sommer 1935 – zum Kampf gegen Hitler und den drohenden Krieg aufzurufen.
Eine Biographie ist die Darstellung eines Lebens von Anfang bis zum Ende. Nicht mehr, nicht weniger. Eine besser recherchierte über Ernst Thälmann gibt es nicht.
Das Manuskript konnte ich vorab lesen und finde die Biographie zu 99 Prozent großartig. Zu dem einen Prozent, was wohl dem Autor einen formidablen Shitstorm der, nennen wir sie „Ziegenhals-Community“, einbringen dürfte, wollte ich dann doch etwas anmerken.
Ronald Friedmann: „Wenn Moskau das so will …“ – Eine Ernst Thälmann Biographie. trafo Wissenschaftsverlag, 2025, 517 Seiten, 44,80 Euro. Erscheint demnächst.
Dr. Harald Pätzolt ist Diplom-Philosoph und Publizist. Er lebt und arbeitet als freier Politikberater in Berlin.