Der Wehrhahn Verlag Hannover publiziert seit Jahren in der Reihe „Theatertexte“ Stücke, die im 18. Jahrhundert auf den Bühnen mit Erfolg aufgeführt wurden, deren Verfasser heute aber weitgehend unbekannt sind. Damit wird das dramatische Schaffen wieder zugänglich gemacht.
Band 91 präsentiert nun eine historische „Hamlet“-Version. Verfasser unbekannt? Wer denkt da nicht an William Shakespeare, wenn von dem sagenhaften Dänenprinzen die Rede ist? Dabei war der Dramatiker aus Stratford-upon-Avon keineswegs der erste, der sich des Sagenstoffes annahm. Der dänische Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus kam ihm mit der „Amlethus“-Sage ungefähr 400 Jahre zuvor. Vor Shakespeares Drama existierte mit dem „Ur-Hamlet“ (vermutlich) von Thomas Kyd (1558-1594?) ein verloren gegangenes Stück. Shakespeares Text ist in drei Texten überliefert: in zwei frühen Quartos (1603 und 1604/05) und der berühmten Folio-Ausgabe (1623).
Shakespeares „Hamlet“ nimmt in der deutschen Kulturgeschichte eine zentrale Stellung ein. Sein Held, den er in Wittenberg studieren ließ, wurde für die Deutschen als Zauderer und Melancholiker zu einer besonderen Figur, an der sie sich immer wieder (bis heute) abarbeiteten. Nach der ersten Prosa-Übersetzung von Christoph Martin Wieland (1762–1766) und der sogenannten Schlegel-Tieck-Übersetzung (1800) entstanden im 19. Jahrhundert zahlreiche weitere Übersetzungen.
Eine frühe deutsche Fassung des Stückes war aber bereits Mitte des 17. Jahrhunderts bekannt und verbreitete sich dann schnell durch fahrende Schauspielertruppen, die quer durch die Lande zogen. Die Fassungen von Wanderbühnen wurden jedoch selten verschriftlicht. Die Tragoedia „Der bestrafte Brudermord oder: Prinz Hamlet aus Dänemark“ wurde erstmals 1781 in der Zeitschrift „Olla Potrida“ des Gothaer Bibliothekars und Theaterdirektors H.A.O. Reichard (1751-1828) abgedruckt und ist jetzt als Neuerscheinung zugänglich. Die Textgrundlage für den Druck war ein Manuskript aus dem Nachlass des berühmten Schauspielers Konrad Ekhof (1720-1778), der am Hoftheater Gotha gewirkt hatte.
Der Herausgeber Mathias Meyer beleuchtet in seinem Nachwort, wie Ekhof in den Besitz des „Brudermord“-Manuskriptes gekommen ist. Vermutlich waren es eine Reihe glücklicher und heute noch rekonstruierbarer Umstände. Nach dem Erstdruck dauerte es hundert Jahre, bis es 1889 in dem Band „Die Schauspiele der Englischen Komödianten“ zu einem Wiederabdruck kam. Weitere 135 Jahre vergingen, ehe es 1967 einen weiteren Nachdruck gab.
Die Entstehungsgeschichte des „Bestraften Brudermordes“ lässt sich bis heute nicht eindeutig aufklären. Das Manuskript der Wanderbühnenfassung aus Ekhofs Nachlass datiert aus dem Jahr 1710. Die Handlung, die inhaltlich stark gekürzt wurde, folgte dennoch in großen Teilen der uns bekannten „Hamlet“-Tragödie. Erhebliche Abweichungen waren dem damaligen Publikumsgeschmack geschuldet, wie etwa der Wegfall sämtlicher Monologe. Die Fassung war weniger poetisch und wies zahlreiche Übereinstimmungen mit den beiden Quarto-Ausgaben auf. Das Stück begann außerdem mit einem „Prolog der Nacht“, in dem drei Furien Partei für die Königin und Hamlets Onkel ergreifen. Weiterhin wurden die Namen von einigen Protagonisten aus dem „Ur-Hamlet“ oder der ersten Quarto-Fassung (Claudius = Erico, Gertrud = Sigrie oder Polonius = Corambus) übernommen.
Bemerkenswert ist schließlich, dass die Wanderbühnen-Fassung trotz der 250-jährigen „Hamlet-Euphorie“ in Deutschland auf wenig Interesse stieß. Ganz anders in England. Hier existieren immerhin fünf Rückübersetzungen vom „Bestraften Brudermord“ sowie zahlreiche Publikationen, die sich mit dem Stück auseinandersetzen. Mit der Wehrhahn-Neuerscheinung hat man jetzt jedoch die Möglichkeit, in der der Gothaer Fassung den „ersten deutschen Hamlet“ kennenzulernen.
Anonym: Der bestrafte Brudermord oder: Prinz Hamlet aus Dänemark. Wehrhahn Verlag, Hannover 2024, 72 Seiten, 8,00 Euro.