Im vergangenen Jahr hat die Schauspielerin und Moderatorin, die liebenswerte Anke Engelke, das Bilderbuch „Die neue Häschenschule: Wie Fuchs und Hase Freunde wurden“ veröffentlicht. Sie hat mit dem Bilderbuch ein Aufschäumen dem Zeitgeist verbundener Kritikaster ausgelöst. Die phantasievolle Adaption war gar zu verlockend! 100 Jahre zuvor war „Die Häschenschule“ von Fritz Koch-Gotha (Bilder) und Albert Sixtus (Texte) auf dem Markt erschienen. Das Buch ist seither weltweit zum Mythos nicht nur kindlicher Freuden mutiert. Es hieße Möhren in die Waldschule der brav angezogenen Langohren werfen, wollte man hier noch einmal den Geist und Inhalt des Hasen-Klassikers aus der Weimarer Republik referieren. Damit würde man zugleich den heurigen Scharfrichtern des Hasenbratens das Schwert schärfen: Aha, der wehrt sich gegen die moderne tierliebende Weltsicht und hat keine Ahnung von dem ohnehin aus der Balance geratenen Missverhältnis zwischen Mensch und Natur – zur Hölle mit ihm!
Unter den vielen und in allen Netzen irrlichternden Kommentaren über das wahre und vermeintliche Wesen alter und junger Hasengenerationen verweist man am Besten auf den Beitrag von Peter Helling, den er am 1. April 2024 um 13:49 Uhr über den Norddeutschen Rundfunk dem Äther anvertraut hat und der in dem fragenden Vers endet, den man auch heute noch 24 Stunden am Tag googeln kann:
Anke Engelke reimt wie ein Star,
holprig, putzig, wunderbar.
Bauern, lasst die Sense unten,
dieses Buch wird euch nicht munden!
Doch wer sich aufregt, hat verloren.
Schärft den Blick und spitzt die Ohren.
Getreu der eigenen Profession wollen wir einen Blick auf das zweifelsohne tragische Leben des Vaters aller aufgewirbelten Hasenkonflikte werfen. Der hieß Albert Friedrich Sixtus und wurde am 12. Mai 1892 im sächsischen Hainichen, 26 km östlich von Chemnitz gelegen, geboren. Der junge Sixtus war von Geburt an ein physisch leider sehr schwacher Junge, der seine Mitmenschen jedoch durch eine ganz natürlich erkennbare außergewöhnliche und farbige Phantasie überraschte. Und er war in seiner Zuneigung zu allem Kindlichen ausdauernd und Zielstrebig. 1906 trat er in das Lehrerseminar in Pirna ein, wo er 1912 die Reifeprüfung mit Auszeichnung bestand. 1915 erhielt er nach ärgerlichen befristeten Arbeitsverhältnissen endlich eine Stelle als Lehrer an der Städtischen Realschule zu Kirchberg bei Zwickau. Die Freude währte nur kurze Zeit. Trotz gravierender Sehschwächen zog man ihn im Ersten Weltkrieg zu den Soldaten ein und mit einem lebenslang quälenden Lebersteckschuss entließ man ihn 1918 wieder in den Schuldienst nach Kirchberg. Später ging er dann als Lehrer nach Glauchau in Sachsen.
Sixtus hatte 1915 geheiratet und im selben Jahr war sein Sohn Wolfgang geboren worden. An diesem kleinen Jungen entzündete sich die ganze individuelle und liebevolle Phantasie des Vaters. Albert Sixtus besaß das Talent, die eigenen Märchenträume in Spielen, Versen und Prosatexten anschaulich gestalten zu können. 1922 schrieb er dann mit geradezu charmanter Leichtigkeit und quasi über Nacht jene Zeilen nieder, die dem friedfertigen Mann bei den Kindern in der ganzen Welt und bis auf den heutigen Tag zur Unsterblichkeit verhelfen sollten: „Hasenmax der Bösewicht, konnte heut sein Verslein nicht …“
Das war die Geburtsstunde der „Häschenschule“. Ein Leipziger Verleger war begeistert und gewann von sich aus den bekannten Zeichner und Grafiker Fritz Koch-Gotha für die Illustrationen. Es entstand ein Welt-Kinderbuch, das von der Literaturkritik damals bereits als Inkarnation des Anthropomorphismus, der Vermenschung von Tieren vehement beargwöhnt wurde, über das Pädagogen auch ohne Rohrstock die Nase rümpfen, das aber zu jeder Zeit den Weg zu den Herzen der Kinder und vieler Eltern gefunden hat. Insofern ist auch die aktuelle Interpretation und als Neubewertung gefeierte und monierte Version durch Anke Engelke keineswegs eine Sensation, sondern wie selbstverständlich eine hübsche Wortmeldung in der langen Werkgeschichte der eigentlichen literarischen Vorlage.
Das Erfolgsgeheimnis der Verse und Bilder lag sowohl im Sujet selbst, als auch in der heitereren, bisweilen ganz vorsichtigen, ironisch angedeuteten Bilderkunst Koch-Gothas und in der Farbigkeit der Sprache von Albert Sixtus, die geeignet war, die Bildhaftigkeit der kindlichen Phantasie anzuregen und sogar zu überzeugen. Denn kritisch erkunden Kinder ihre Welt zu jeder Zeit.
Das Besondere war auch, dass Sixtus und Koch-Gotha einander nie begegnet sind und dennoch zu einer so wunderbaren und einmaligen Harmonie gefunden haben. Als Sixtus 1930 einen zweiten Teil, „Der Häschen-Spaziergang“, veröffentlichte, stammten die Illustrationen von dem Grafiker Richard Heinrich, der 1893 in Reutlingen geboren worden ist.
Sixtus schrieb in den folgenden Jahrzehnten mehr als 75 Kinderbücher. Er arbeitete neben seiner Tätigkeit als Lehrer in Glauchau an verschiedenen Kinderzeitschriften mit, ohne sich von den Nationalsozialisten gleichschalten zu lassen. Er wurde sogar von der Gestapo einmal für zwei Tage verhaftet und entzog sich 1938 nach der Pensionierung seinen Glauchauer Spitzeln durch den Umzug nach Jena, weil der Sohn dort Philologie studierte.
Sixtus mietete eine Wohnung in der Jenaer Talstraße 36. Krank und schwach, schrieb er unablässig weiter und wartete – wartete vergebens auf die Rückkehr des als Soldat in der Sowjetunion verschollenen Sohnes. Albert Sixtus starb im Februar 1960, krank, hoffnungslos und von der Öffentlichkeit kaum mehr beachtet. Die Thüringische Landeszeitung druckte nur einen kurzen, fast verschämten Nachruf. Sechs Jahre später folgte ihm seine Frau ins Grab. Die Wohnung in der Jenaer Talstraße 36 wurde von Verwandten aufgelöst, auch und dankenswerterweise von dem Großneffen Ulrich Knebel.
Albert Sixtus hatte Zeit seines Lebens Unterlagen, Manuskripte und Publikationen in vorbildlicher Ordnung aufbewahrt. Zudem sichtete Ulrich Knebel 30 Jahre später den auf einem Dachboden abgestellten Reisekorb mit dem Nachlass. Der Korb enthielt unveröffentlichte Schriften, darunter Verse für etwa 30 Bilderbücher, zwei Märchenspiele, einige Kindererzählungen, einen Roman, einen Abenteuerroman für Kinder, eine Biografie, Theaterstücke und über 100 Gedichte für Kinder und Erwachsene. Ein wahrer Schatz! Ulrich Knebel gründete 1997 in Kottmarsdorf in der Lausitz das Albert-Sixtus-Archiv und ist bei seinem Bemühen von der gleichen freundlichen Heiterkeit, wie sie die Verse von Sixtus selbst ausstrahlen. Zudem ist es online jederzeit erreichbar.
Das ist notwendig, denn bei der „Häschenschule“ mangelt es zu keiner Zeit an epigonalen Liebhabern. Im Frühjahr 2016 ist in einem Stuttgarter Verlag das Kinderbuch „Ferien in der Häschenschule“ erschienen – als vermeintlicher vierter Teil der ursprünglichen „Häschenschule“. Der Band besitzt seine eigene Geschichte. Im Jahre 1947 haben Anna und der Grafiker Rudolf Mühlhaus das Buch „Ein Tag in der Häschenschule” herausgegeben – als dritten Band der Häschen-Saga. Damals ist von dem Ehepaar offenbar ein weiteres Manuskript verfasst worden, das dessen Tochter gefunden und nun dem Stuttgarter Verlag übergeben hat.
Ob Sixtus von den Arbeiten der Mühlhaus’ gewusst hat? Letztlich spricht die anhaltende Popularität der bunt gekleideten Häschen in der Schule für die nachhaltige Qualität der Autoren Sixtus und Koch-Gotha. Darum hat der Verein der „Schlaraffen“ (In der Kunst liegt Vergnügen!), die liebenswerten Freunde des Humors, genießend, und völlig zu Recht im Oktober 2010 in der Jenaer Talstraße 36 eine Gedenktafel für Albert Sixtus angebracht. Da wird Anke Engelke vielleicht noch einmal vorbeischauen und eine Blume hinterlassen, weil der Albert Sixtus ihr eine so fabelhaft Vorlage für die eigene liebevolle Phantasie geliefert hat.