Heutzutage erfahren wir sofort, ob und auf welche Weise irgendwo ein Despot gestürzt und ein neuer gesalbt wurde. Wenn hinten in China ein Sack Reis umfällt und ein Uigure zufällig darunter liegt, geht die Nachricht sofort um die Welt. Zumindest der westlichen. Ganze Kriege werden in Echtzeit übertragen. Im World Wide Web ist man dabei, wenn Sternchen geboren und Stars geschlachtet werden. Der Tag scheint nicht fern, in welchem aus dem Auto-Cockpit eine Amokfahrt live gestreamt werden wird …
Was aber war vor Fernsehen und Internet?
Diese Frage muss sich Wolfram Adolphi gestellt haben. Sonst wäre er nicht auf die Idee gekommen, im Blättchen in zwanzig Beiträgen zu erklären, wie Mao in deutsche Köpfe kam. Bevor dieser die Volksrepublik China 1949 ausrief, der erste Mann im Staate wurde, man sein Porträt über dem Tor zur Verbotenen Stadt in Beijing installierte und Studenten bei Demonstrationen in Westeuropa rote Büchlein mit seinen Zitaten über ihren Köpfen schwenkten. Auf welche Weise kam also Maos Name nach Europa, wer brachte Kunde von ihm aus dem Reich der Mitte ins Deutsche Reich und mit welchen Intentionen? Der studierte und habilitierte Außenpolitiker Adolphi, Jahrgang 1951, hatte offenbar nach seinem ziemlich bewegten Berufsleben freie Kapazitäten, um darauf nach Antworten in Presse- und anderen Archiven zu suchen. Forschungen waren dazu erforderlich, es mussten unzählige vergilbte Zeitungsseiten umgeblättert werden, denn in der Digitalwüste Deutschland sind keineswegs alle historischen Tageszeitungen elektronisch archiviert, um auf Tastendruck konkrete Begriffe finden zu lassen. Ausgenommen vielleicht das Neue Deutschland, wo alle Ausgaben vom ersten Tage bis zum 2. Oktober 1990 digitalisiert sind. Vielleicht besorgten das nach der „Wende“ mit Steuergeldern finanzierte ABM-Akademiker, denn Eigeninteresse und politische Bedürfnisse der neuen Macht würde ich als Motiv für diesen Kraftakt ausschließen wollen. Aber frei von jeglicher Mäkelei: Das nd-Archiv ist eine vorzügliche Nachrichtenquelle, die man für nur fünf Euro im Monat nutzen kann. Wer sich mit DDR-Geschichte beschäftigt, weiß, was er daran hat.
Also Adolphi stöberte in alten Zeitungen, und er tat dies systematisch und mit Akribie, denn er ist Akademiker. Scheibchen-, also artikelweise präsentierte er seine Entdeckungen im Blättchen. Zwar bereitet der Verzehr einer einzigen Salamischeibe Genuss, daraus lässt sich durchaus auf den Geschmack der ganzen Wurst schließen, aber es ist so wie mit den Fortsetzungsromanen, die vor Jahrzehnten in der Tagespresse standen: Häppchen sind irgendwie unbefriedigend, und was man gelesen hat, ist anderntags schon vergessen. Man verliert den Zusammenhang. Nicht grundlos verschwanden die Fortsetzungsromane irgendwann. Es wird nicht nur an der Mode gelegen haben.
Das wird sich wohl auch der Verleger gedacht haben, der Adolphis Geschichten im Blättchen las, weshalb er ihm vorschlug, alle Teile zwischen zwei Pappdeckel zu versammeln – wohl wissend, dass damit kaum ein Platz in den Bestsellerlisten zu erobern ist. So etwas ist keine Lektüre für ein Massenpublikum. Warum sollten sich viele Menschen dafür interessieren, was Journalisten vor hundert Jahren über Mao berichteten und wie sie dies taten? Aber, und das wird wohl die Überlegung gewesen sein, einige wohl doch, zumal man daraus mindestens zwei Schlüsse ziehen kann: Wie und wann etwa bestimmte Narrative begründet wurden (Massenmörder Mao, kommunistischer Blutsauger, Stalins Bruder im Geiste …) und warum sie in der Gegenwart absichtsvoll bedient werden. Mit einem Verbrecher und Dämon als Feindbild lässt sich leicht in die Schlacht ziehen gegen einen Staat, den dieser begründete.
Auf dem Cover ist die Büste von Mao zu sehen, die der deutsche Bildhauer Gustav Seitz schuf. Sie entstand vor seiner sechswöchigen China-Reise und für den chinesischen Pavillon auf der Frühjahrsmesse in Leipzig 1951. Man konnte die Plastik vor geraumer Zeit in einer Ausstellung in Trebnitz am Rande des Oderbruchs sehen, wo die Gustav Seitz Stiftung seit 2017 ihren Sitz hat. Seitz war nie hier, aber für die Stiftung die Miete günstiger als in Hamburg. Nun konnte man den Kopf der chinesischen Unperson nicht einfach so präsentieren, zumal Seitz den von ihm Porträtierten als Lichtgestalt sah, welcher die Chinesen von kolonialer Sklaverei befreit hatte. Damals, als er im September 1951 mit einer Delegation der Akademie der Künste der DDR das im Aufbruch befindliche Land bereiste, konnten achtzig Prozent der Chinesen weder lesen noch schreiben, der Hunger war allgegenwärtig wie auch der unbändige Wille, das schwere Joch der Vergangenheit abzuwerfen und die Gesellschaft umzukrempeln. Seitz war insbesondere von den selbstbewussten, optimistischen Frauen begeistert. Der Ertrag seiner Reise: unzählige Notizen und Skizzen, Fotografien, drei Tagebücher, siebzig Tuschezeichnungen auf Papier aus Reisstroh …
Um dies alles ideologisch ins rechte Licht zu rücken, war der Mao-Büste eine Erklärung hinzugefügt worden – feige als Frage formuliert, um nicht den Eindruck der Indoktrination aufkommen zu lassen (dafür sorgte der Monitor gegenüber, auf welchem in Endlosschleife der Auftritt des „Tank Man“ lief, jenes Chinesen mit den Einkaufsbeuteln in den Händen, der 1989 einen Panzer, unterwegs zum Platz des Himmlischen Friedens, stoppte). Der Text lautete: „Wie wäre Seitz später mit seiner Mao-Zedong-Plastik umgegangen, hätte er vom Schicksal seiner chinesischen Reisebekanntschaften wie Ding Ling und Ai Qing und von Millionen Opfern vor allem des mit diktatorischer Hast erzwungenen ‚Großen Sprungs nach vorn‘ ab 1958, der 1966 ausgerufenen ‚Großen Proletarischen Kulturrevolution‘ und der vielen anderen Kampagnen erfahren?“ Na wie wohl? Die Büste gäbe es nicht mehr, suggeriert der Text, und erklärte damit zugleich den 1969 verstorbenen Bildhauer zum umnachteten Idioten, der zwanzig Jahre keine Nachrichten zur Kenntnis genommen und darum keine eigene Meinung hatte. (Übrigens, falls man mit den Namen der beiden Reisebekanntschaften nichts anfangen kann: Ai Qing war der Vater des bis vor einiger Zeit als Dissident gefeierten Ai Weiwei, welcher 1958 in Chinas Nordwesten verbannt worden war. Wie übrigens auch die Familien des heutigen Staats- und Parteichefs Xi Jinping und des Reformers Deng Xiaoping.)
Adolphi, um zudem Buch zurückzukehren, fand in den frühen Nachrichten in der christlich-abendländischen Presse über China und Mao eine fatale Kontinuität begründet. So las er in der Sächsischen Volkszeitung vom 8. Juli 1931 „ein von Revolutionsangst getragenes Bild des ‚Kommunismus in China‘“. Durch jenen Text über den „labyrinthisch irren Lauf des chinesischen Bürgerkrieges“ geisterte auch Maos Name. Er und seinesgleichen nutzten „das Elend der chinesischen Volksmassen in Dorf und Stadt zu ihren politischen Zwecken“ aus, hieß es. Die Frage nach den Ursachen des Elends aber wurde nicht gestellt, wohl aber behauptet, dass viele Menschen erschlagen oder gezwungen wurden, ihre Häuser zu verlassen. „Wo die ‚Roten‘ die Macht ergreifen, setzten sie einen ‚Ausschuss für Ausrottung der Reaktionäre‘ ein, dessen Aufgabe darin bestehe, Landeigentümer, Kaufleute, Regierungsbeamte usw. zu bestrafen oder zu vernichten.“ Das Privateigentum von Gutsbesitzern, Kaufleuten usw. werde beschlagnahmt und „die Arbeiter werden veranlaßt, Erhöhung der Löhne, Verringerung der Arbeitszeit usw. zu verlangen.“ Hört, hört!
Die Nazipresse setzt, wofür Adolphi ebenfalls Belege liefert, die antikommunistische Chinas-Sicht fort: „ein Gebräu aus Falschmeldungen, Teilwahrheiten und Offenbarung der faschistischen Herrschafts- und Vernichtungspläne“. In der Ausgabe des „Hauptorgans der NSDAP Gau Baden Baden“ vom 23. Dezember 1936 beispielsweise warnte man vor dem „roten Schatten Moskaus“ (der natürlich Ursprung allen Übels in der Welt war und ist), welcher sich „wieder einmal über dem Horizont Chinas erhoben“ habe. „Drahtzieher aller Aufstände und Revolutionen in China, die im Interesse Moskaus liegen“, sei der „berüchtigte rote General Mao-tse-tung“, „Chef der chinesischen Kommunisten“, „Vertrauter, fast Freund Stalins“, „des Russischen mächtig“, „mit der Komintern in ständiger Verbindung“ stehend und „in Moskau an der von Radek gegründeten kommunistischen Propagandauniversität ausgebildeter“ Terrorist. Alles Unsinn. Mao besuchte Moskau erstmals 1949, und er sprach weder Russisch, noch war er Stalins Freund.
Wolfram Adolphi zeigt sich in seinen Analysen als exzellenter Kenner der Materie: Er weiß um die historischen Zusammenhänge und vermag auch eine Schneise durch den sprachlichen Dschungel zu schlagen (die unterschiedlichen Schreibweisen chinesischer Namen in den Zeitungen und Zeitschriften sind ein Problem, weil jeder Journalist augenscheinlich nur seiner eigenen Phonetik folgte). Zugegeben, mitunter nervt die Vielzahl der in Klammern beigefügten offiziellen Transkription, und die Auslassungen, ebenfalls mit eckigen Klammern und drei Punkten markiert, hemmen den Lesefluss. Aber was will man machen: Der Autor vermag seine wissenschaftliche Herkunft nicht zu leugnen. Und das ist nun wirklich lediglich eine Fußnote zu dieser bemerkenswerten Arbeit, deren Wert unbestritten ist und darum Aufmerksamkeit wie Anerkennung verdient.
Wolfram Adolphi: Wie Mao in deutsche Köpfe kam. Eine Presseschau 1927-1949. Verlag am Park in der edition ost, Berlin 2025, 170 Seiten, 18,00 Euro.
Wolfram Adolphis Artikelserie erschien in den Blättchen-Heften 15/2023 bis 13/2024.