25. Jahrgang | Nummer 21 | 10. Oktober 2022

Über den „Neuen Menschen“

von Wolfgang Brauer

Anfang Januar 1918 erhält der Nachrichten-Unteroffizier Heinrich Vogeler im Stab des XXIV. Armeekorps Heimaturlaub. Er soll im Worpsweder Atelier ein aus Sicht der Auftraggeber nicht recht gelungenes Plakat für die inzwischen achte Kriegsanleihe überarbeiten. Zu Hause übermannen ihn offensichtlich die grauenvollen Kriegserlebnisse – „sein“ Korps hatte an der Schlacht um Verdun teilgenommen, wurde dann an der Karpatenfront eingesetzt und Ende 1917 wieder in die Champagne verlegt. Vogeler lässt das Plakat liegen und schreibt am 20. Januar einen Friedensappell an den Kaiser, den er auch der Obersten Heeresleitung schickt. Der Text wurde noch während des Krieges als „Das Märchen vom lieben Gott“ bekannt: „Da gaben die Krüppel ihre blutstinkenden grauen Kleider, ihre Orden und Ehrenzeichen zurück an den Gott des Mammons, gingen unter das Volk und entheiligten die Mordwaffen und vernichteten sie.“

Der Aufforderung, ein Friedensfürst zu sein, folgte Wilhelm II. nicht. Vogeler wurde stattdessen in die Psychiatrie des Bremer St.-Jürgen-Krankenhauses eingewiesen. Erich Ludendorff wollte den „Landesverräter“ erschießen lassen.

Für Heinrich Vogeler führen der Friedensappell und die ihn begleitenden Geschehnisse „zum grundsätzlichen und endgültigen Bruch […] mit dem Worpsweder ‚Märchenprinzen der Jahrhundertwende“, wie Bernd Stenzig 2018 schreibt. Und „Das Märchen vom lieben Gott“ ist der Angelpunkt, an dem die vier an der dortigen Jubiläumsausstellung zu Vogelers 150. Geburtstag beteiligten Worpsweder Museen ihre Ausstellungskonzeption festmachen. Der Titel ist ambitioniert: „Heinrich Vogeler. Der Neue Mensch“.

Vogeler verwendet ihn selbst, allerdings in eindeutigerer Konnotation als der Museumsverbund. Mit diesem Begriff vermeint der Künstler den nach seiner Ansicht im Werden begriffenen Menschen der jungen Sowjetunion zu erfassen. „Die Geburt des neuen Menschen“ ist der Untertitel seiner 1925 erschienenen „Reise durch Rußland“.

Beginnen wir mit der Großen Kunstschau, jenem expressionistischen Wunderbau Bernhard Hoetgers aus den 1920er Jahren. Das Museum widmet sich Vogeler in einem „historischen“ und einem „neuen“ Teil. Im Zentrum des „historischen Teils“ steht natürlich das dort beheimatete monumentale Gemälde „Sommerabend“ („Das Konzert“) aus dem Jahr 1905, das in Korrespondenz gestellt wird mit ausgewählten Bildern der Künstlerkollegen des kurzlebigen, aber nachhaltig wirkenden Künstler-Vereins Worpswede (1897–1899): Otto Modersohn, Fritz Mackensen, Fritz Overbeck, Hans am Ende und Carl Vinnen. In der Rotunde hängen Moorbilder der Genannten, hübsch anzusehen, vom Sujet her Unproblematisches. Qualitativ aus der Reihe fällt Otto Modersohns „Abend (Liebespaar am Hang)“, das der Maler dem Freund Vogeler und dessen Braut Martha 1901 zur Hochzeit schenkte. Das Bild ist auch auf einem Foto zu sehen, das Heinrich Vogeler im Wohnzimmer des Barkenhoffs zeigt, mit dem die Besucher der Schau begrüßt werden. Vier Arbeiten Paula Modersohn-Beckers flankieren den „Sommerabend“. Das ist konsequent. Paula hielt auf den Prinzen vom Barkenhoff große Stücke: „Das ist mein ganzer Liebling. Er ist nicht so ein Wirklichkeitsmensch wie Mackensen, er lebt in einer Welt für sich.“

Vogeler selbst urteilt über die Kollegen nach der Auflösung des „Künstler-Vereins“ durchaus heftig. „Die Kerls werden hier mehr oder weniger schrullige Sonderlinge“, schreibt er an den Insel-Gründer und Mäzen Alfred Walter Heymel. Fritz Mackensen seinerseits, der nach 1918 zu einem aggressiven völkisch-nationalsozialistischen Wadenbeißer mutiert, hielt ihn für „geistig verwirrt“. Carl Vinnens nationalistische Anwandlungen („Ein Protest deutscher Künstler“) wurden selbst Otto Modersohn zu viel. Diese Konflikte innerhalb der Künstlergruppe bleiben in der Ausstellung weitgehend ausgespart.

Dafür kann man in der Rotunde des Hauses unter dem runden Oberlicht der Installation „FocusV“ von Jost Wischnewski folgen, der uns mit einem Bilderstrudel von Zeitschriftentiteln, Flugschriften, Plakaten und Fotografien konfrontiert, der zu einer Auseinandersetzung mit „Vogelers Engagement für eine sozial gerechtere und friedlichere Weltordnung“ einladen will.

Im „Neuen Teil“ der Kunstschau wird das versucht. Als Leitmotiv wählten die Kuratoren den Titel der Vogeler-Schrift „Anbruch einer neuen Zeit“ (1919), allerdings mit einem Fragezeichen versehen. Arbeiten der deutschen Künstlerin Jannine Koch und der Nigerianerin Sokari Dougals Camp setzen sich mit Rassismus und Umweltzerstörung auseinander. Julia Faber („Where there’s Grazers – There’s Hunters“, 2019) ironisiert gekonnt die Ängste vor der künstlichen Intelligenz, während der Österreicher Oliver Ressler in seinen Architekturvisionen „Reclaiming Abundance“ (2021) auf die Überwindung der heutigen Industriegesellschaft durch Veganismus und alternative Energien setzt. Das sind Dokumente leidenschaftlichen Engagements, haben aber mit Vogeler wenig zu tun. Die soziale Frage ist bei diesen zeitgenössischen Artikulationen weitgehend ausgespart.

Heinrich Vogeler fühlte sich auf dem künstlerischen Höhepunkt seiner Jugendstilarbeiten in einer ähnlichen, naturgemäß nicht-digitalen, Blase gefangen: „Die Aufträge auf der kunstgewerblichen Linie […] waren Rosenketten gewesen, die mein Leben umkränzten. Jetzt erkannte ich sie als Fesseln“, reflektiert er in der Autobiographie seine damalige Situation.

Die „Rosenketten“ lassen sich, liebevoll und gekonnt präsentiert, wenige hundert Meter entfernt im Haus im Schluh besichtigen. Martha Vogeler baute das Gebäudeensemble ab 1920 förmlich zu einer Vogeler-Weihestätte auf. Das große Pfund der von ihr aufgebauten Sammlung ist das Trennungsgut aus dem Barkenhoff: Gemälde und Grafiken des Ex-Mannes, dazu Design-Arbeiten und Entwürfe. Für die Jubiläumssonderschau wählte man den Titel „Das Leben gestalten“. Nun gut, das ist Sinn jeglicher Formgestaltung von der Antike an. Die Schluh-Leute versuchten, sich irgendwie dem gemeinsamen Leitthema anzupassen. Sie zeigen ausschließlich Vogelers Jugendstil-Arbeiten. Das sind hochkarätige Stücke: Porzellane („Goldrose“ – 1905 für die KPM), Gläser, Bestecke („Herbstzeitlose“, 1903), Textiles. Und Möbel! An das in edlem Weiß gehaltene „Zimmer einer jungen Frau“ (1906, im Bremer Focke-Museum) wird gekonnt erinnert, eine Augenweide ist das „Tulpenzimmer“ (1906) aus dem Barkenhoff. Und natürlich werden Möbel der 1908 in Tarmstedt mit dem Bruder Franz Vogeler gegründeten „Worpsweder Werkstätten“ gezeigt. Im „Schluh“ kann das Auge schwelgen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Mit einer entschieden umfassenderen Sicht auf die extrem widersprüchliche Künstlerbiographie tritt die Kunsthalle an der Bergstraße auf: „Kunst für alle“. Gemeint ist die Druckgrafik, vor allem die traumhaft schönen Radierungen. Da sind die Mappenwerke „Die versunkene Glocke“ (1898) zu Gerhart Hauptmann und als Beispiel der Arbeiten für den Insel-Verlag „An den Frühling“ (1899). Und die Kunsthalle zeigt die in der Mappe „Aus dem Osten“ (1916) veröffentlichten Zeichnungen vom Vogelerschen Einsatz an der Ostfront. Mitnichten ist die von der Schärfe des Otto-Dix’schen Zyklusses „Der Krieg“ – aber der entstand erst fünf Jahre nach Kriegsende. Die Vogeler-Zeichnungen sind als Stationen auf dem Weg zum erwähnten Positionswechsel im Januar 1918 durchaus ernst zu nehmen. Dessen künstlerischer Ausdruck ist wiederum ein grafisches Blatt: „Die sieben Schalen des Zorns / Offenbarung Johannis“. Die Vorzeichnung zu dieser eindrucksvollen Radierung, die stark an Ludwig Meidners „apokalyptische Landschaften“ erinnert, entstand während des Zwangsaufenthaltes in der Bremer Psychiatrie. Im Unterschied zu anderen, deren „Revolutionserlebnis“ nur ein kurzes Aufflackern war, blieb Vogeler dem jetzt eingeschlagenen Weg bis an sein Lebensende treu.

Der ist nacherlebbar anhand der publizistischen und künstlerischen Zeugnisse, die der Barkenhoff unter dem Titel „Werden“ präsentiert. „Werden“ nennt Vogeler auch seine autobiographischen Aufzeichnungen, die Erich Weinert 1952 erstmals herausgibt. Den Verfasser hatte die Sowjetbürokratie zehn Jahre zuvor auf erbärmliche Weise in der Nähe von Karaganda verhungern lassen. Wie viele andere Exilanten wurde er aus Moskau nach Kasachstan „evakuiert“. Die Stalinschen „Säuberungen“ hatte er auf wundersame Weise überlebt. Orthodoxen Kommunisten galt Vogeler als Abweichler – 1929 wurde er als Anhänger August Thalheimers und Heinrich Brandlers aus der KPD ausgeschlossen. Dennoch hielten Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck immer wieder ihre Hände über ihn. Dafür stand Heinrich Vogeler auf der „Sonderfahndungsliste UdSSR“ des Reichssicherheitshauptamtes.

Die gezeigten bildkünstlerischen Arbeiten der letzten 20 Lebensjahre sind extrem widersprüchlich. Geradezu „klassische“ Erntebilder im Stile des sozialistischen Realismus hängen neben herausragenden Porträtarbeiten wie „Deutscher Stachanowarbeiter im Erholungsheim Sotschi“ (1936) oder den 1938 gemalten Porträts der Schauspieler Lotte Loebinger und Heinrich Greif. Beeindruckend und immer noch unterschätzt sind die Vogelerschen Komplexbilder, mit denen er versucht, die Umwälzungen des gewaltigen Landes zu erfassen: „Aufbau der Zentralasiatischen Sowjetrepubliken“ (1927). Von erschreckend visionärer Kraft dagegen ist das Porträt des Schwiegervaters Julian Marchlewski in einer düsteren Kemenate des Kremls aus dem Jahre 1924. Die dunkle Seite des revolutionären Aufbruchs, die ihn Jahrzehnte später zum Scheitern bringen sollte, scheint für einen Moment auf. Ein Jahr zuvor hatte Heinrich Vogeler mit überdeutlichen Anleihen aus der christlichen Ikonographie „Die Geburt des Neuen Menschen“ gemalt. Ich bin sicher nicht der Einzige, der den Barkenhoff in tiefer Nachdenklichkeit verlässt.

Heinrich Vogeler. Der Neue Mensch, Worpsweder Museen, bis 9. November 2022; weitere Informationen im Internet.