25. Jahrgang | Nummer 21 | 10. Oktober 2022

Die Metropole Berlin fiebert – eine Nachlese

von Jürgen Hauschke

Peter Walther ist vor allem bekannt geworden mit seiner kenntnisreichen und spannenden Biographie über Hans Fallada (Aufbau 2017). Gemeinsam mit Hendrik Röder leitet er seit Jahren das Brandenburgische Literaturbüro in Potsdam. Als Autor versteht er es ausgezeichnet, die Leser durch die Lektüre zu fesseln. Erzählt wird in seinem neuen Buch „Fieber. Universum Berlin 1930 – 1933“ über das Ende der Weimarer Republik auf dem noch unbestimmten, nicht zwangsläufigen Weg ins „Dritte Reich“. Der Ort des Geschehens ist die Hauptstadt Berlin.

Die heterogenen Protagonisten sind Personen der Zeitgeschichte: Die drei letzten Kanzler der Weimarer Republik, Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher, der Vorsitzende der KPD, Ernst Thälmann, der sozialdemokratische Ministerpräsident des Freistaates Preußen, Otto Braun, der „Hellseher“ Erik Jan Hanussen, jüdischer Herkunft, Sympathisant des Nationalsozialismus und Freund des Wolf-Heinrich Graf von Helldorff, des SA-Führers von Berlin. Schließlich noch zwei Frauen, die kaum unterschiedlicher sein könnten: Die amerikanische Schriftstellerin und Journalistin Dorothy Thompson sowie die Engländerin Maud von Ossietzky, Ehefrau des Chefredakteurs und Herausgebers der Weltbühne.

Das Buch beginnt mit biographischen Skizzen über die genannten neun Personen. Ihnen folgen sieben Kapitel, in denen Geschichte und Geschichten der Hauptfiguren von 1930 bis zum Frühjahr 1933 wie ein Netz miteinander verwoben werden. Das abschließende Kapitel „Finale furioso“ setzt wiederum den Fokus auf die einzelnen zentralen Gestalten. Im Anhang finden sich eine knappe Chronologie, umfangreiche Anmerkungen, ein vielfältiges Literaturverzeichnis sowie ein hilfreiches Personenregister. Wenige treffend ausgewählte Fotos illustrieren das Geschehen.

Der Autor schildert das politisch zerrissene Berlin, die kulturelle Moderne und die restaurativen Gegenströmungen, das Nebeneinander von Luxus und Armut, den Bürgerkrieg auf den Straßen, die Massenarbeitslosigkeit und groteske Details wie Mittagessen auf Teilzahlung am Kurfürstendamm. Die eindringlichen Porträts zeigen, dass Geschichte, gerade deutlich in Umbruchzeiten, von Menschen gemacht wird: Von Menschen mit ihren Stärken und Schwächen, mit ihren Sorgen und Zweifeln, Hoffnungen und Ängsten, Wesensarten, die deren Handeln beeinflussen – damals wie heute.

Der gerade aus seinem Amt entlassene Reichskanzler Brüning spielt am Abend mit seiner Patentochter Mensch ärgere Dich nicht. Er wird 1970 in Vermont auf den Tag genau vier Jahrzehnte nach seinem Amtsantritt sterben. Der in die Illegalität getriebene Thälmann gerät in Gefangenschaft, als er Trost bei seiner Geliebten Martha Kluczynski sucht. Bis zu seiner Ermordung 1944 wird er von den Nazis in Einzelhaft gehalten, dabei anfangs gefoltert und später in eine Doppelzelle mit Chaiselongue, Büchern, Zeitungen und Radio gesperrt. Diese beiden und die anderen politischen Hauptfiguren werden in den letztlich kurzen Skizzen in ihren menschlichen Grenzen und Träumen gezeigt.

Die historischen Nebenfiguren sind die interessanteren. Die junge amerikanische Journalistin Dorothy Thompson lernt in Berlin den älteren Sinclair Lewis, Nobelpreisträger für Literatur von 1930, kennen. Sie heiraten bald. Nach kurzem USA-Aufenthalt kehrt Thompson wieder zurück nach Deutschland, um über dieses brodelnde Land zu berichten und um – nach Jahren des Drängens – endlich ein Interview mit dem „Führer“ gewährt zu bekommen. Ihr weiterer emanzipierter Lebensentwurf erscheint sehr heutig.

Bizarr hingegen ist die zunächst symbiotische Verbindung zwischen dem Wiener Juden Hermann Chajm Steinschneider, unter dem Pseudonym Hanussen eine nicht nur berlinweit bekannte Boulevardgröße, und dem Grafen Helldorff. Durch die Ermordung Hanussens im März 1933 wurden die enormen Schulden des Grafen beim „Hellseher“ gegenstandslos; Helldorff wird bald Polizeipräsident von Berlin.

In Hamburg lernen sie sich 1912 kennen: Maud Hester Woods, Tochter eines englischen Kolonialoffiziers und Urenkelin einer indischen Prinzessin, und Carl von Ossietzky, Hilfsschreiber auf dem Grundbuchamt, Pazifist und angehender Publizist. Beide verbindet politisches Engagement, sie in der englischen Frauenbewegung, er in der Deutschen Friedensgesellschaft und später in der Republikanischen Partei. Ab 1927 ist Ossietzky Herausgeber und Chefredakteur der Weltbühne. Maud hat schon zu Beginn der Ehe Alkoholprobleme. Nachdem 1919 die Tochter Rosalie geboren wurde und ihr Mann seit Mitte der zwanziger Jahre als überbeschäftigter Publizist kaum Zeit für die Familie hatte, versucht sie, die immer öfter aufkommenden Angstgefühle und Panikattacken mit Alkohol zu bekämpfen. Am Abend des Reichstagbrandes, am 27. Februar 1933, ist Ossietzky mit Freunden bei seiner engsten Freundin Gusti Hecht. Ihm wird geraten, sofort Deutschland zu verlassen, da sein Name bereits auf Verhaftungslisten der SA stehe. Ossietzky entscheidet, in die Wohnung zu seiner alkoholkranken und Hilfe bedürftigen Ehefrau Maud zu gehen. Am frühen Morgen des nächsten Tages wird er dort verhaftet. Die Weltbühne wird verboten. Peter Walther beschreibt die Tragik der Beziehung und die verzweifelten Versuche von Maud, ihren Mann zu retten. Nachdem Ossietzky den Friedensnobelpreis 1936 erhalten hat, wird er aus dem KZ Esterwegen entlassen und in ein Berliner Polizeikrankenhaus überführt. 1938 stirbt er an den Folgen der schweren Misshandlungen in den Lagern. Der größte Teil des Geldes für den Nobelpreis, das Maud verwaltete, wird durch einen Rechtsanwalt unterschlagen. Maud von Ossietzky lässt Die Weltbühne 1946 im Nachkriegsberlin unter sowjetischer Lizenz wiederaufleben. „Äußerlich sieht die neue ‚Weltbühne‘ wie ihre Vorgängerin aus, im Geist aber bleibt sie ein unfreies Unternehmen.“ Das ist Walthers zu kurzes und eindimensionales Fazit zum Weiterbestehen der wohl wichtigsten unabhängigen linksliberalen Wochenschrift der Weimarer Republik. Maud stirbt 1974 in Ostberlin. Die Weltbühne erscheint bis 1993.

Peter Walther erzählt sehr facettenreich die kleinen privaten und die großen Geschehnisse der Zeit. Das geschieht nicht im nüchternen Stil eines Historikers oder eines distanzierten Betrachters. Der Autor pflegt vielmehr einen angenehm lesbaren, literarischen Erzählstil, fühlt sich in die Personen ein, ohne deren Blickwinkel jedoch ganz einzunehmen. Als Leser fühlt man sich als wäre man mitten in den bildhaft erzählten Szenen. Laut Walther ist alles Beschriebene belegbar, der fiktionale Anteil äußerst gering, gar zu vernachlässigen.

Peter Walthers Buch wurde keine Genrebezeichnung beigegeben. Es bewegt sich im Spannungsfeld zwischen literarischer Erzählung und historiographischem Bericht. Ist es ein Roman, etwa eine auf den politischen Kriminalfall Reichstagsbrand hinlaufende Novelle, oder ein historischer Abriss mit biographischen Porträts? Man kann es als romanhaftes Geschichtsbuch lesen. Auf jeden Fall wird es nicht nur diejenigen Leser in seinen Bann ziehen, die sonst um Geschichtsbücher eher einen Bogen machen.

Peter Walther: Fieber. Universum Berlin 1930-1933, aufbau – Aufbau Verlag, Berlin 2020, 364 Seiten, 22,00 Euro.