25. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2022

Nicht länger eine „geopolitische Anomalie“

von Peter Linke, zz. Almaty

Lange präsentierte sich Südkorea nach Ansicht des in Manila ansässigen Asien-Analysten Richard Javad Heydarian als „geopolitische Anomalie“ – als aufstrebende Macht, die weit unter ihrer Gewichtsklasse antrat: ein langjähriger Verbündeter der USA mit besten Wirtschaftsbeziehungen zu China, eine global vernetzte Hightech-Nation, deren ganze diplomatische Aufmerksamkeit den Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel galt.

Südkoreas neuer konservativer Präsident Yoon Suk-yeol hat dem Vernehmen nach mit derartiger Selbstbescheidung nichts am Hut. Für ihn sei die Republik Korea ein „globaler Schlüsselstaat“, der jenseits der Nordkorea-Frage verstärkt in seine Sicherheitspartnerschaft mit Washington investieren müsse: Mit Pjöngjang umzugehen sei eine wichtige Aufgabe jeder Seouler Regierung, deren diplomatische Aktivitäten dürften sich darin jedoch nicht erschöpfen, kritisierte Yoong im Wahlkampf die Politik seines Vorgängers Moon Jae-in.

In welche Richtung gedacht wird, verdeutlichte Ende April der Präsident der Nationalen Verteidigungsakademie, Jung Hae-il: Bislang balanciere Seoul zwischen Beijing und Washington. Präsident Yoong habe indes erklärt, einen Beitritt zum Quad – dem sicherheits- und militärpolitisch ausgerichteten Bündnis der USA, Australiens, Indiens und Japans zur Gewährleistung eines „freien und offenen Indopazifiks“ – prüfen zu wollen. Die Position der Seouler Regierung werde sich ändern …

Ein Dementi aus dem Präsidialbüro folgte sogleich. Aber die Katze war aus dem Sack und Asien-Analysten hatten für kurze Zeit ein neues Lieblingsthema. Südkorea im Quad, vielleicht sogar als Ersatz für Indien, dessen Russlandpolitik im Bündnis bereits für Verstimmungen gesorgt hat? Nach Einschätzung der Politologen Rahul Mishra und Peter Brian M. Wang (Kuala Lumpur) könnte Südkorea eine gute Ergänzung sein, Indien jedoch nicht ersetzen: zu groß die Abhängigkeit der südkoreanischen Wirtschaft von China, zu stark das historische Zerwürfnis zwischen Seoul und Tokio. Indien wiederum sei aufgrund seiner Gegnerschaft zu China, seiner geografischen Lage und seiner Außenwirkung als einer der Gründungsstaaten der Nichtpaktgebundenbewegung aus Quad nicht wegzudenken. Etwas anders sieht es Lü Chao, Direktor des Instituts für USA- und Ostasienstudien an der Universität Liaoning im chinesischen Shenyang: Südkorea verlöre international an Glaubwürdigkeit, sollte es seinen Beziehungen zu China Schaden zufügen. Quad sei gegen China gerichtet, womit sein Expansionsvermögen von vornherein beschränkt sei. Wie überhaupt seine Möglichkeiten beschränkt seien: Japan und Indien verfolgten eigene Pläne – Japan möchte es sich nicht mit China verderben, Indien nicht mit Russland. Lediglich Canberra stimme vorbehaltlos in Washingtons Geheul gegen China ein.

Selbst in den USA scheinen gegenüber Seouls neuem geopolitischen Enthusiasmus Vorbehalte zu bestehen: Nichts gegen größeres sicherheitspolitisches Engagement, insbesondere wenn es zu besseren südkoreanisch-japanischen Beziehungen beiträgt. Aber gleich Teil der neuen, noch auf wackligen Füssen stehenden regionalen Mini-Allianz – das könnte nicht nur Washingtons Nordkoreapolitik erschüttern, sondern auch und vor allem einem weiteren, diesmal chinesischen Trojaner Tür und Tor öffnen. Asienspezialisten in den USA sind sich weitgehend einig: Schon wegen Nordkorea werden für Seoul die Beziehungen zu Beijing stets Vorrang haben. Deshalb ist und bleibt Tokio Washingtons wichtigster Verbündeter im Kampf gegen China um die Vormachtstellung in der Region und darüber hinaus.

Interessiert an engeren Beziehungen zu Südkorea ist man am Potomac dennoch. Vor allem das Wissenschafts- und Technologiepotenzial des Landes sticht den Strategen ins Auge. Bis Ende August soll sich Seoul entscheiden, ob es sich an „Chip 4“ beteiligt – einer Allianz USA-Japan-Taiwan-Südkorea zur Schaffung alternativer Halbleiterlieferketten unter Umgehung Chinas. Heikel für Südkorea mit seiner enormen Abhängigkeit vom chinesischen Markt. Allein Samsung Electronics und SK Hynix realisieren rund 30 Prozent ihrer Produktion im Land der Mitte. Und Beijing hat klargestellt: Sollte sich Südkorea an „Chip 4“ beteiligen, wäre das „kommerzieller Selbstmord“.

Aber auch auf rein militär-technologischem Gebiet sind die Begehrlichkeiten in den USA groß: Während Bidens Seoul-Visite im Mai einigte man sich auf eine jährlich tagendes Forum zur Zusammenarbeit bei innovativen Technologien, die für das Pentagon besonders wichtig sind. Sie reichen von KI über Quantencomputing bis zur technischen Erschließung und Kontrolle des Weltraums. Im Mittelpunkt der für den Herbst geplanten ersten Sitzung stehen Probleme der Weltraumlageerfassung. Zudem will man klären, wie sich langfristig die „Sicherheit globaler Lieferketten“ gewährleisten ließe. Wie es heißt, soll es um Investitionen in zukunftsträchtige Funktechnologien, 5G- und 6G-Netzwerkgeräte und -architekturen sowie Quantensensorik gehen. Als erstes Projekt hat man die gemeinsame Entwicklung tragbarer Atomuhren und Quantensensoren zwecks verbesserter Positionierung und zeitlicher Koordination jenseits von GPS ins Auge gefasst.

Aber warum eigentlich strebt Südkorea in Strukturen wie Quad? Nicht zuletzt aus dem gleichen Grund wie Japan: um Waffenmärkte zu erschließen. Nur geht Seoul dabei offensichtlich wesentlich erfolgreicher als Tokio vor. Das Waffengeschäft ist eine der Erfolgsgeschichten des Landes. 2021 beliefen sich die entsprechenden Exporteinnahmen auf 7 Milliarden Dollar. Zwischen 2017 und 2021 hat Seoul seine Waffenexporte um rund 177 Prozent gesteigert – die höchste Steigerungsrate weltweit. Auf der Liste der Waffenexporteure lag Südkorea 2021 auf dem 8. Platz und hatte seinen Gesamtanteil von 1 Prozent (2012–2016) auf 2,8 Prozent (2017–2021) steigern können. Im Jahre 2000 lag es noch auf Platz 31.

Neben Südostasien und Nahost sind in den letzten Monaten drei neue Märkte ins Blickfeld Seouls geraten.

Nummer 1 – Australien: Südkoreas Rüstungsgigant Hanwha möchte dort nicht nur seine Schützenpanzer AS21 und Panzerhaubitzen K9 an den Mann bringen, sondern auch seine KSS-III-U-Boote. Angepriesen als leistungsstärkste konventionelle U-Boote der Welt, seien sie idealer Ersatz für Australiens Collins-Boote, die 2030 – rund 10 Jahre vor Fertigstellung des ersten australischen Atom-U-Boots im Rahmen von AUKUS – ihre Diensttauglichkeit erschöpft haben werden.

Nummer 2 – Indien: Auch hier möchte Südkorea neben Landkriegsgerät seine AIP-Boote im Rahmen von Projekt-75I gegen russische, deutsche, französische, spanische und schwedische Konkurrenz durchdrücken …

Nummer 3 – EU und NATO: Präsident Yoons Teilnahme am Madrider NATO-Gipfel im Juni sei reine „Verkaufsdiplomatie“ gewesen, klingt es aus Seoul. Besonders Polen zeige großes Interesse, seine an die Ukraine gelieferten Krab-Selbstfahrlafetten durch K9-Haubitzen zu ersetzen. Seoul ist seit 2014 an der Fertigung der polnischen Krabben beteiligt – ein idealer Türöffner für die Waffenschmiede aus Fernost.

Dass sich mehr als 70 Prozent der Bevölkerung Südkoreas vor dem Gipfel gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen haben – geschenkt. Vielleicht haben sie’s getan, weil die Ukraine verdammt weit weg ist. Vielleicht hat sich der eine oder andere auch daran erinnert, dass Südkoreas Weltraumprogramm, seine Raketenabwehrkapazitäten sowie seine Nuklearindustrie ohne Russland heute nicht da wären, wo sie sind.

Die Skepsis gegenüber Südkorea in den USA nährte Präsident Yoon jüngst während Nancy Pelosis Stippvisite in Seoul. Zu einer persönlichen Begegnung ließ er es nicht kommen; ein 40-minütiges Telefonat musste reichen … Danach schickte er Außenminister Park Jin auf eine dreitägige Reise nach China, um dort ein weiteres kniffliges Thema anzugehen: das in Südkorea stationierte US-amerikanische Raketenabwehrsystem THAAD, dessen Radar Beijing als Bedrohung für seine Interkontinentalraketen betrachtet. Zwar redet Yoong nach seiner Wahl nicht mehr davon, eine zweite THAAD-Batterie ins Land holen zu wollen, aber China bleibt skeptisch – nicht ganz zu Unrecht angesichts der USA-Pläne, die Effektivität von THAAD durch Kopplung mit anderen Waffensystemen zu steigern. Wider besseres Wissen zu behaupten, von derartigen Plänen habe Seoul keine Kenntnis, wirkt nicht gerade souverän.

Aber warum sich überhaupt als „globaler Schlüsselstaat“ auf Washingtons „Indo-Pacific“ mit seinen Quads und AUKUS‘ einlassen und damit Gefahr laufen, in eine Auseinandersetzung zwischen zwei Größenwahnsinnigen hineingezogen zu werden? Wäre es nicht sinnvoller, alternative Minibündnisse zu begründen, die der wachsenden Multipolarität unserer Welt Rechnung tragen würden? Vorschläge dazu kommen ausgerechnet aus Australien – vielleicht nicht von ungefähr, denn die Fixierung auf den Heilsbringer USA ist dort besonders stark ausgeprägt, was unter Spezialisten auf Widerspruch stößt. So destabilisiert nach Meinung der Direktorin des Japan-Instituts der Australischen Nationaluniversität, Lauren Richardson, die strategische Rivalität zwischen China und den USA zunehmend die Verhältnisse in der Region. Eine engere wirtschaftliche Kooperation zwischen Australien, Japan und Südkorea könnte helfen, die jeweiligen Abhängigkeiten von Beijing und Washington zu mildern.

Noch deutlicher Hugh White, einer der führenden Geostrategen des Landes: Realität sei, dass die USA in der Auseinandersetzung mit China über kein deutlich formuliertes Ziel verfügen. Mit Parolen wie der vom „freien und offenen Indo-Pazifik“ werde versucht, dieses Manko zu kaschieren. In Wahrheit gehe es Washington darum, seine Vormachtstellung zu bewahren. Es gebe kein Modell für eine neue Rolle Amerikas im Asien des 21. Jahrhunderts, denn Macht innerhalb wechselnder Allianzen zu teilen sei nicht Amerikas Praxis. Lieber gehe es im Wettbewerb um Macht und Einfluss auf Konfrontationskurs zu China … Vielleicht sollte man das auch hierzulande bedenken, ehe deutsches Kriegsgerät um den halben Erdball gejagt wird.