25. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2022

Café Corbusier – ein gelungenes Debüt

von Stephan Giering

Dieses Buch ist ein mutiges-mutmachendes Buch: Dem deutsch-US-amerikanischen Architekten Philipp Mohr ist mit seinem Debüt-Werk eine autobiografische Vergangenheitsaufarbeitung im Essayformat sowie ein Sachbuch zugleich gelungen. Mohr deckt in seinem Werk die bis heute versteckte Nazivergangenheit in der deutschen Architekturgeschichte auf. Das gelingt ihm mit viel Empathie, noch viel mehr persönlicher Transparenz bei der eigenen Familiengeschichte sowie eigenen Rechercheergebnissen und vor allem Fakten. Ebenso verdient es großen Respekt, wie offen er seine eigene biographische Identitätsfindung als Mann jenseits heteronormativer Lebensvorstellungen thematisiert. Darin und in einem von ihm in mühevoller schrittweiser Arbeit bewältigten eigenen Familientrauma sieht Mohr die Gründe, weshalb er sich einerseits so sehr von deutschen Designern und Architekten unterscheidet und besonders großes Interesse am Franzosen Le Corbusier entwickelt hat, jedoch sich andererseits zugleich als „unheimlich germanisch“ fühlt. Das wiederum lässt dem Lesenden sein Interesse an der (deutschen) Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Aufarbeitung seiner eigenen historischen Familienbiografie plausibel werden.

Der Ausgangspunkt seiner Recherchen ist die stilechte Renovierung einer Wohnung in dem 1957 im vormaligen West-Berlin gebauten Wohnhochhaus Unité d’Habitation „Typ Berlin“ auf eigene Kosten. Vorher wurden – so deckt Mohr in seinem Buch auf – die Vorstellungen Corbusiers sowohl von Teilen seines eigenen deutschen Teams als auch von Mitarbeitern in damaligen Westberliner Behörden verhunzt und sabotiert. Über das Warum erfahren die Leser spannende, ja sogar weltneue Details in diesem Buch. Mohr zeigt auf, wie hochaktuell ja geradezu „sozialrevolutionär“ die damaligen originären Vorstellungen Le Corbusiers zur ganzheitlichen Gestaltung von städtischen Räumen heute klingen. „Der Fußgänger muss sein verlorenes Königreich wiedererhalten und Herr der Innenstadt sein“, zitiert Mohr den seinerzeit wohl weltbekanntesten Architekten. Wie schafft man es, Wohnhäuser so zu bauen und so auszugestalten, dass sich das Darin-Wohnen jedermann, unabhängig von seinem sozialen Status und seiner kulturellen Herkunft, leisten kann? Das ist die oft schon vergessene gesamtheitlich- „sozialrevolutionäre“ Vision Le Corbusiers für eine moderne demokratische Stadtgesellschaft post bellum. Warum sie seinerzeit in West-Berlin so stark – auch von politischer Seite – bekämpft wurde, beschreibt Mohr mit seinem packendem Stil.

Von seinen nicht minder dramatischen autobiografischen Auseinandersetzungen seien hier exemplarisch einige genannt: sein Karrierebeginn in New York, die „Sehnsucht nach Deutschland“, Mohrs Rückkehr nach Westdeutschland, das Sich-Behaupten und Ringen müssen um seine eigene persönliche Identität als Homosexueller, der „Nazi-Komplex“ der Mutter, die offenbar eine jüdische Identität erfindet (sic!), die Aufarbeitung der eigenen frühen Kindheitseinflüsse und Traumen. All das befindet sich im Fluss mit Mohrs eigenen historisch kritischen Beobachtungen.

Besonders erkenntnisreiche Einblicke erlauben oft die sogenannten „Kleinigkeiten“ des Lebens. So auch hier. Mohr beschreibt den Verlauf einer Eigentümerversammlung im Berliner Corbusier-Wohnhochhaus, in dem „die Geschichte der weißen Wände“ besprochen wurde. Weiße Wände, die früher farbig waren; Weiß als „Farbe der Reinheit und Unschuld“. Kann man historische Verantwortung auch architektonisch wieder „reinwaschen“ oder gar versuchen, sie „wegzubauen oder wegzudesignen“? Dazu gibt Mohrs Debütwerk spannende Antworten.

Das Buch ist durchgehend mit Fotos des französischen Fotografen Didier Gailard-Hohlweg bebildert. Der Fokus dieser ausdrucksstarken Architekturfotografie richtet sich darauf, was die Berliner Gesellschaft durch Denkmäler und Architektur thematisieren, hervorheben oder verschönern und was sie am liebsten ganz vergessen machen möchte.

Mit einem experimentellen Design hat die französische Grafikerin Clèmence Kertudo den Text grafisch gekonnt umgesetzt und visuell ansprechend mit den enthaltenen Bildern und Skizzen verbunden.

Allen, die an einer Zukunft Berlins nach einem design & living for all, an moderner Architekturgeschichte oder vielleicht gar an einer eigenen retrospektiven Familienrecherche interessiert sind, sei dieses Werk von Philipp Mohr sehr empfohlen.

Philipp Mohr: Café Corbusier. Eine Rekonstruktion in Berlin,  edition Kronzeugen, Rhauderfehn 2021, 224 Seiten,19,50 Euro.