25. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2022

Ago von Maltzan – Architekt von Rapallo

von Hermann-Peter Eberlein

Im Imperiale Palace Hotel in Santa Margherita Ligure – der Ortsteil, in dem es liegt, gehörte bis 1928 zu Rapallo – kann man noch heute den Salon besichtigen, in dem vor hundert Jahren, am 16. April 1922, jener Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Russischen Sowjetrepublik unterzeichnet wurde, durch den sich beide Staaten aus ihrer diplomatischen Isolation befreiten und als Akteure auf die außenpolitische Bühne zurückkehrten. Der Abschluss des Vertrages war ein Paukenschlag, der Vertrag von Rapallo selbst wird bis heute unterschiedlich gewertet: als Befreiung Deutschlands von der Abhängigkeit durch die Westmächte, als Beginn seiner Remilitarisierung, als Abkehr von den Idealen der Demokratie und Hinwendung zu einem autoritären Regime, als erster Schritt auf dem Weg zur Revision von Brest-Litowsk und Versailles.

Gewollt war der Vertrag auf deutscher Seite von Reichskanzler Wirth, unterschrieben hat ihn Außenminister Rathenau, maßgeblich vorbereitet, initiiert und ausgehandelt wurde er vom Leiter der Ostabtteilung im Auswärtigen Amt Ago von Maltzan. Wer war dieser heute fast vergessene Diplomat, dem Gustav Stresemann seine vielleicht persönlichste Gedenkrede gewidmet und den der damalige britische Botschafter, Viscount D’Abernon, zu den einflussreichsten Personen in der internationalen Politik der Zwanziger Jahre gezählt hat?

Adolf Georg Otto von Maltzan, Freiherr zu Wartenberg und Penzlin, der sich recht früh mit den Anfangsbuchstaben seiner Vornamen Ago nannte, wurde am 31. Juli 1877 in Klein Varchow bei Penzlin geboren. Er entstammte mecklenburgischem Uradel; sein Vater Ulrich, Rittergutsbesitzer, hatte im Jahr zuvor Adelheid Bierbaum geheiratet, deren Vater ebenfalls ein Rittergut besaß. Ago war das erste Kind; seine Schwestern heirateten später in die Familien Luckner und Krosigk ein. Eine typische Familie ostelbischer Junker also, und in deren Bahnen erfolgt die Erziehung des Erstgeborenen: Nach der Kindheit auf den Familiengütern Klein Varchow und Großen Luckow mit Unterricht durch Hauslehrer folgen der Besuch des Katharineums in Lübeck, wo Ago Ostern 1896 die Reifeprüfung ablegt, und das Jurastudium in Bonn und Breslau. Bei den Bonner Königshusaren absolviert er nebenher seinen Militärdienst und beschließt ihn als Rittmeister der Reserve. Bereits zum Studienbeginn wird Maltzan Mitglied der Corps Borussia Bonn, der wohl vornehmsten Studentenverbindung im Reich, der auch Wilhelm II. angehört; hier macht der höfliche und zugleich intelligente und gewitzte, manchmal zynische Student bald Karriere und wird bereits 1897 dem Kaiser vorgestellt.

Dem Corps bleibt Maltzan sein Leben lang verbunden, wehrt sich aber später als Staatssekretär gegenüber dem Chefredakteur des sozialdemokratischen Vorwärts erfolgreich gegen die Unterstellung, ehemalige Korpsstudenten zu bevorzugen. Maltzan promoviert zum Dr. jur., besteht Ende 1900 das Referendarexamen und beginnt seinen Dienst in der Nähe von Breslau; im Jahr 1906 absolviert er das Assessorexamen. Bereits 1901 hat er sich im Auswärtigen Amt vorgestellt, nun wird er in den Diplomatischen Dienst übernommen – die finanzielle Unabhängigkeit für den Dienst als Attaché besitzt er, wie er denn überhaupt alle sozialen Zugangskriterien für eine Karriere im Auswärtigen Amt erfüllt.

Die ersten Stationen führen ihn als Legationssekretär jeweils für kurze Zeit nach Brasilien und Norwegen, 1910 arbeitet er in der Berliner Zentrale, 1911 wird er nach St. Petersburg, 1912 als Legationsrat nach Peking versetzt, wo er zeitweise als Geschäftsträger fungiert. Im Jahr 1917 kehrt Maltzan nach Europa zurück und vertritt sein Amt beim Oberkommando Ost; bald kommt es durch seine verständigungsorientierte Haltung zum Konflikt mit der Obersten Heeresleitung. Auf Betreiben Ludendorffs abberufen, wird Maltzan der Botschaft in Den Haag zugewiesen; bei der Unterzeichnung des Vertrages von Brest-Litowsk ist er jedoch wieder dabei.

Nach dem Krieg bekommt Maltzan die Aufgabe, die seine Rolle in der Geschichte ausmacht: Er übernimmt als Vortragender Rat die Leitung des Russlandreferates innerhalb der neugebildeten Ostabteilung im Auswärtigen Amt. Zunächst auf Seiten der Weißen stehend, plädiert er ab Anfang 1920 für einen Ausgleich mit der bolschewistischen Regierung und wird bald zum führenden Vertreter einer Ostorientierung der deutschen Politik. Im Mai 1921 bringt er ein Wirtschaftsabkommen mit Russland zustande, im selben Jahr wird er unter Reichskanzler Wirth als Ministerialdirektor Leiter der Ostabteilung. In dieser Funktion baut er das Wirtschaftsabkommen zu einem umfassenden Vertrag aus. Mit dem Kominternsektretär Karl Radek einigt er sich auf die Hauptpunkte: wechselseitiger Verzicht auf Reparationen, Anwendung des Meistbegünstigungsprinzips, Ablehnung der Vorschläge Lloyd Georges, über die auf der internationalen Finanz- und Wirtschaftskonferenz in Genua im Frühjahr 1922 verhandelt werden soll. So kommt es am Rande der Konferenz trotz Vorbehalten Rathenaus zu dem völlig überraschenden Vertragsabschluss von Rapallo. Legendär ist die Pyjamakonferenz, bei der sich die deutsche Delegation in der Nacht vor der Unterzeichnung in einer Suite des Hotels noch einmal abstimmt, nachdem die letzten russischen Vorschläge eingegangen sind. Noch 1922 wird Maltzan zum Staatssekretär ernannt.

Auf einem Heimaturlaub 1914 hatte der Diplomat die knapp ein Jahrzehnt jüngere Edith Gruson aus Magdeburg geheiratet, eine Enkelin des Schwerindustriellen Hermann Gruson, des Begründers der Grusonwerke, die er freilich bereits 1893 an Krupp verkauft hatte. Es ist vielleicht typisch für Maltzan, dass er, statt per Schiff, mit seiner Frau vierzehn Tage mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Peking zurückreist, und auch, dass er sich mit chinesischen Dingen umgibt, die ihn seither auf allen Lebensstationen begleiten. Im Herbst 1919 kommt das einzige Kind aus dieser Ehe zur Welt, eine Tochter, die den Vornamen der Mutter erhält und die 1986 für ihre eigenen Kinder die Briefe ihrer Mutter aus der Zeit in China herausgegeben hat – eine erfrischende Lektüre und selten genutzte Quelle zugleich.

Ende 1924 wird Maltzan Botschafter in Washington – es ist der vielleicht wichtigste Botschafterposten, den das Reich zu besetzen hat. Maltzan ist kein Mann des Aktenstudiums; er liest wenig, aber versucht, den Geist des gesellschaftlichen und politischen Systems seines Gastlandes in sich aufzunehmen und zu verstehen – sein kurzes Geleitwort zur deutschen Ausgabe von Nicholas Murray Butlers Buch über den Aufbau des amerikanischen Staates zeigt etwas von dieser Fähigkeit, die doch den Kern diplomatischer Kunst ausmacht. Der neue Botschafter trägt erheblich dazu bei, dass die Stimmung im Lande sich auf die deutsche Seite zu neigen beginnt, und wird bald auch zum Liebling der Presse, die nicht zuletzt den selbst zugelegten Vornamen zu schätzen weiß.

Am 23. September 1927 kommt Maltzan während eines Heimataufenthaltes bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe von Schleiz ums Leben. Sein Grab auf dem Gut in Großen Luckow, dessen Herrenhaus 2005 niederbrannte, ist lange verwildert; die Witwe starb 1976 in Garmisch-Partenkirchen.

Wer war Ago von Maltzan? Der fähigste Diplomat, den Deutschland je hatte, wie die Vossische Zeitung titelte, oder ein Karrierist, wie Harry Graf Kessler schrieb, der ihn schon von Bonn her kannte und später als Beobachter in Genua dabei war? Immerhin stützen sich die entsprechenden Passagen von Kesslers Rathenau-Biographie maßgeblich auf Maltzans Protokolle. Der frühe Tod hat den roten Baron davor bewahrt, das Ende seiner Politik in der Nazizeit miterleben zu müssen – er hat ihn freilich für Jahrzehnte auch um jede Würdigung gebracht. Immerhin fand 1987 in Anwesenheit von Minister Genscher eine Gedenkfeier im Auswärtigen Amt statt, aber erst seit 2006 existiert eine große politische Biographie: die Heidelberger Dissertation von Niels Joeres, der dieser Essay nicht allein den Titel verdankt.