25. Jahrgang | Nummer 9 | 25. April 2022

1923 – über Grosz und Nexö, Kisch und Gorki

von Christian Bommarius

George Grosz hat seit vergangenem Sommer in Russland nach dem neuen Menschen gesucht. Vor einem halben Jahr hatte er sich auf den Weg zu ihm gemacht, in Begleitung des dänischen Romanciers Martin Andersen Nexö, ermuntert vom kommunistischen Pressemagnaten Willi Münzenberg. Geplant war ein gemeinsames Reisebuch, mit Texten von Nexö, illustriert von Grosz. Aber sehr bald hatte Grosz erkannt: „Wir beide passten gar nicht zusammen.“

Es war nicht nur der Altersunterschied von 24 Jahren, der sie trennte. Nexö erschien dem jungen Grosz als versponnener Idealist, der der bolschewistischen Propaganda eher Glauben schenkte als seinen eigenen Augen. Ihm war entgangen, was Grosz genau registrierte: Willkür, Bürokratie, das Elend der Bevölkerung – „So war mein erster Eindruck der des Hungers“. Auf der einen Seite das Desinteresse der Arbeiter und Bauern an individualistischer Kunst, die schlichtem Agitprop jederzeit den Vorzug geben, auf der anderen Seite die neue Klassengesellschaft, in der der gebildete, kosmopolitische Volkskommissar für Bildung und Kultur im Waggon eines Sonderzugs von Moskau nach Leningrad kleine, kokette Schühchen mit Lackspitzen trägt, der ihm gegenübersitzende Volkskommissar proletarischer Herkunft aber unförmige Soldatenstiefel aus Filz.

War Nexö wirklich blind für die fürchterliche gesundheitliche Verfassung, in der Lenin zu ihnen gesprochen hatte? Grosz war sofort aufgefallen, dass Lenin beim Reden immer wieder den Faden verlor und ihm Worte leise zugerufen worden waren. Diese Sprachstörungen kannte Grosz von einer Tante, die einen Tumor im Gehirn hatte. Grosz hatte den moribunden Revolutionsführer gesehen, Nexö nur den Revolutionsführer. Sollte Nexö tatsächlich auch nicht bemerkt haben, was Grosz von Anfang an ahnte: Der junge, redselige Genosse, der sie auf der gesamten Reise begleitete, war ein Lockspitzel, der die ausländischen Gäste mit seinen abschätzigen Bemerkungen über die Revolution zu konterrevolutionären Äußerungen verleiten wollte. Nexö hatte solche machiavellistischen Tricks ausgeschlossen: „Wo bleibt denn da die Wahrheit?“ „Die Wahrheit, mein lieber Martin“, hatte Grosz erwidert, „ist nach Lenin ein bürgerliches Vorurteil, also damit für einen gläubigen Genossen endgültig abgeschafft.“

Nach sechs Monaten sind die beiden ungleichen Reisegenossen nach Deutschland zurückgekehrt. Nexö hat sich in Allensbach am Bodensee niedergelassen und einen Hymnus auf den Sowjetmenschen und das marxistisch-leninistische Imperium verfasst: „Dem jungen Morgen zu! Schilderungen von einer Russlandreise“. Grosz ist nach Berlin gefahren und sofort aus der KPD ausgetreten: „Für die Politik des Übermenschen habe ich ein tiefes Misstrauen, keine Liebe.“ Und damit das ein für alle Mal klar ist, schreibt er: „Man kann mich unterdrücken, man kann meine Arbeiten verbieten, man kann mich verhungern lassen oder körperlich bestrafen – meinen Geist kann man nicht unterdrücken.“

*

Wankt jetzt auch Gorki? In einer Zeit, in der alles Reaktionäre auf den Zusammenbruch der Sowjets hofft, sollte tatsächlich auch Maxim Gorki, das Jugenderlebnis einer ganzen Generation, der große Augenöffner, der den Blick lenkte in Kellerwerkstätten, Nachtasyle, nächtliche Häfen und über Steppen von unendlicher Weite, zum Gegner der Diktatur des Proletariats geworden sein? Sollte ausgerechnet er, wie die kapitalistische Presse berichtet, mit dem „Geschmeiß“ der Hunderttausende Emigranten verkehren, das sich unter dem Vorwand, das Leben vor dem sowjetischen Terror zu retten, seit einiger Zeit mit dem Verkauf von Brillanten und gestohlenen Gemälden und mit Valutaschiebungen in Berlin breitmacht? Der Kommunist Egon Erwin Kisch kann es nicht glauben. Darum folgt der Journalist der Aufforderung – ob er sie von der Parteileitung in Deutschland oder aus Moskau erhalten hat, verrät er nicht -, im Januar zu Gorki ins märkische Saarow hinauszufahren und zu prüfen, ob der Schriftsteller die Treue einer Generation, die er erzogen hat, mit Untreue vergilt.

Kisch begegnet einem schmalen, langen Mann mit grauem Haar und grauem Schnurrbart, und er sieht in große müde Augen in einem mageren Gesicht. „Ich bin krank“, sagt Gorki gleich zu Beginn des Gesprächs, schreibt Kisch, „und deshalb musste ich aus Russland weg.“ „Sie wollen nach Russland zurück, Alexej Maximowitsch?“, fragt Kisch. „Selbstverständlich, ich gehöre nach Russland. Ich hoffe, bald nach Russland zurück zu können“, sagt Gorki, der nicht daran denkt, in den nächsten Jahren nach Russland zurückzukehren, denn die Krankheit, die ihn befallen hat, ist weniger Tuberkulose, sondern die Angst vor dem Terror Lenins. „Also ist es nicht wahr, was man in den Zeitungen schreibt“, fasst der junge Journalist hoffnungsfroh nach, „dass Sie ausgewiesen oder geflüchtet sind?“ – „Nichts davon ist wahr. Die Sowjetleute sind meine Freunde.“

Allerdings hat Lenin seit einiger Zeit Zweifel an der Freundschaft Gorkis mit den Sowjetleuten, nachdem der berühmte Autor über einen Prozess in Moskau gegen verruchte Sozialrevolutionäre geschrieben hat: „Falls der Prozess gegen die Sozialrevolutionäre mit Hinrichtungen endet, so ist das der Beweis dafür, dass das Ganze ein schändlicher Mord war.“ Lenin hatte ihm empfohlen, aus gesundheitlichen Gründen über seine Freundschaft zu den Sowjetleuten im Ausland nachzudenken. Entweder sagt also Gorki dem deutschen Journalisten nicht die Wahrheit oder Kisch nicht den Lesern, denen er die Gorki-Geschichte erst Jahre später, in der „Roten Fahne“ präsentiert. Der Reporter schreibt immer mal wieder, nichts sei erregender als die Wahrheit, aber im Grunde hält er sie für ein „bürgerliches Vorurteil“. Lenin dixit.

Aus – Christian Bommarius: „Im Rausch des Aufruhrs: Deutschland 1923“, dtv Verlagsgesellschaft, München 2022, 352 Seiten, 24,00 Euro (Hardcover), 19,99 Euro (E-Book).
Überschrift von der Redaktion.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.

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