25. Jahrgang | Nummer 2 | 17. Januar 2022

„Nous verrons – wir werden sehen“

von Alfons Markuske

Nach Prinzipien zu handeln, käme mir vor,
als wenn ich mit einer Stange quer im Munde durch den Wald laufen sollte.

Bismarck über Bismarck

Mit „Als Deutschland erstmals einig wurde. Reise in die Bismarckzeit“ hat Bruno Preisendörfer nunmehr den vierten und – nach eigenem Bekunden – abschließenden Band seiner Zeitreisen in deutsche Vergangenheiten vorgelegt. Bereits jene in die Goethe- (Blättchen 23/2015) sowie in die Lutherzeit (Blättchen 1/2017) waren in diesem Magazin gepriesen worden – als farbenpralle und ebenso detailreiche wie kurzweilige Epoche-Panoramen. Um es gleich vorweg zu sagen: Sein hohes Niveau hat der Autor ein weiteres Mal gehalten.

Doch im jetzigen Falle war die Angelegenheit nicht zuletzt eine fast persönliche. Preisendörfer im Interview: „Als Arbeiterkind, das sich immer für die Arbeiterbewegung interessiert hat, musste das (ein Band über die Bismarckzeit – A.M.) noch sein.“ Dabei machte der Autor zugleich keinen Hehl daraus, dass August Bebel ihm „deutlich näher steht“ als der Reichseiniger und Eiserne Kanzler. Was den anbetrifft, war da auch noch dieses: „Die Idealisierung Bismarcks als Großvater des Sozialstaates, die man immer noch hört, ist der blanke Unsinn.“

Bismarcks politischer Aufstieg begann bekanntlich in den Jahren nach den gescheiterten revolutionären Unruhen in Deutschland und anderen Ländern von 1848/49, die wieder einmal – die Französische Revolution mit all ihren Schrecknissen und Folgen lag schließlich nur ein reichliches halbes Jahrhundert zurück – gezeigt hatten, „welche Gefahr der bürgerlichen Ordnung, dem bürgerlichen Besitz und der Monarchie drohte, wenn die Besitzlosen auf die Barrikaden gingen“. Es schloss sich eine jahrzehntelange Gegenrevolution an, zu deren führendem Kopf zunächst im Norddeutschen Bund (unter Führung Preußens) und dann im Deutschen Reich Bismarck mit seiner Ernennung erst zum Preußischen Ministerpräsidenten (1862), später zum ersten Reichskanzler (1871) avancierte. Sie kulminierte in dem von ihm initiierten „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Socialdemokratie“ (Sozialistengesetz) und der davon ausgehenden Verfolgung der Repräsentanten und Aktivisten der Arbeiterbewegung (1878–90). Die reaktionäre mentale Grundausstattung dafür prägte den preußischen Junker von altem altmärker Adel bereits in jungen Jahren. So schrieb er 1849 nach einem Besuch an der Grabstätte der im Jahre 1848 in Berlin gefallenen März-Revolutionäre an seine Gattin: „Gestern war ich im Friedrichshain, und nicht einmal den Toten konnte ich vergeben, mein Herz war voller Bitterkeit über den Götzendienst mit den Gräbern dieser Verbrecher.“ Eine Haltung, die 1871 dazu führte, dass die deutschen Truppen, die Paris eingeschlossen hatten, dem Kriegsverlierer Frankreich gleichwohl ermöglichten, mit seinem Militär in die Hauptstadt einzurücken, um die Kommune blutig niederzukartätschen.

Der Weg zur erstmaligen Einigung Deutschlands mit dem symbolischen Akt der Kaiserkrönung im Spiegelsaal von Versailles im Jahre 1871 führte über drei siegreiche, jeweils nicht vordergründig wegen irgendwelcher Eroberungen, sondern mit konkreten politischen Zielen geführte Kriege – den zusammen mit Österreich gegen Dänemark (1864), den gegen Österreich (1866) und jenen durch die Manipulation Bismarcks um die sogenannte Emser Depesche herbeigeführten gegen Frankreich (1871). In der ihm eigenen Unbescheidenheit bekannte der Kriegsherr später: „Ohne mich hätte es drei große Kriege nicht gegeben, wären achtzigtausend Menschen nicht umgekommen […]. Das habe ich mit Gott abgemacht.“ Der schenkte ihm (darob?) ein langes Leben, respektive gestattete es ihm, wie Preisendörfer trefflich hervorhebt, „den Tod fürs Vaterland im Bett zu sterben“. In diesem Kontext gestattet sich der Autor, etwas zu extemporieren, indem er eine verallgemeinernde Bemerkung einstreut, wie sie in diesem Opus wiederholt anzutreffen sind – hier zum Stichwort „Opfertod“ auf dem Schlachtfeld: „Allerdings sterben auf diese selbstmörderische Weise um Jenseitslohn immer nur die untersten Chargen. Generäle und Guerillaführer, Warlords und Widerstandsköpfe sprengen sich nicht in die Luft, ganz gleich, auf welcher Seite sie stehen, für welche Ziele sie kämpfen und zu welchem Gott sie beten.“ Zwar waren, so könnte angemerkt werden, auch in modernerer Zeit durchaus anders verlaufende Fälle nie gänzlich ausgeschlossen, aber eher mit dem Fazit „Ausnahmen bestätigen die Regel“.

Doch zurück zu Bismarcks langem Leben, das er selbst zwar 1865 durch ein Pistolenduell aufs Spiel setzen wollte (der Geforderte – er hatte Bismarcks Wahrhaftigkeit im Preußischen Landtag angezweifelt, lehnte gegenseitiges Totschießen jedoch ab – war Rudolf Virchow) und das im darauffolgenden Jahr ein Pistolenattentäter ins Visier genommen hatte. Ebenfalls erfolglos. So konnte sein Besitzer diesem Leben außer den bereits erwähnten weitere reaktionäre Meriten hinzufügen. Etwa durch rigorose Zurückweisung von Forderungen nach Verkürzung der täglichen Arbeitszeit in Fabriken auf zwölf Stunden oder gar einer gänzlichen Freistellung des Sonntags von Fabrikarbeit: „Bismarck lehnte das bis zuletzt ab […].“ Auch gegen Einschränkungen von Frauen- und Kinderarbeit in Fabriken und gegen eine Gesetzgebung zum Schutz der Arbeiter durch eine Unfallversicherung zog der Junker zu Felde. Es „bestehe die Gefahr“, so beschreibt Preisdörfer Bismarcks Denke in Sachen Unfallversicherung, „dass versicherte Beschäftigte am Arbeitsplatz weniger gut aufpassen oder in leichtsinnigen Schlendrian verfallen […], wenn sie ihre Familien versichert und versorgt wüssten“.

Und die Einführung staatlicher Fürsorgegesetze für die Arbeiterschaft? Dazu erklärte Bismarck 1881 – das Sozialistengesetz war seit drei Jahren in Kraft: „Die Heilung der socialen Schäden“ werde „nicht ausschließlich im Wege der Repression socialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein“. Preisendörfer fasst zusammen: „Bismarck war, anders als die Legende vom ‚Begründer des Wohlfahrtsstaates‘ erzählt, von sozialreformerischen Impulsen völlig frei. Sozialpolitik interessierte ihn nicht als Sozial-, sondern ausschließlich als Machtpolitik.“ Mit anderen Worten: Der Alte hatte, woran bis heute autoritäre und schlimmere Herrscher immer wieder scheitern, einfach erkannt, dass mit Unterdrückung allein auf Dauer kein Blumentopf zu gewinnen ist.

Preisendörfer begeht nicht den Fehler, bei der Dekonstruktion von Bismarcks Nimbus das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wo angebracht, lässt der Autor dem Eisernen Kanzler durchaus Gerechtigkeit widerfahren – etwa im Hinblick auf das Streben nach Kolonien: „Bismarck lehnte territorialen Besitz des Staates in Afrika bis Mitte der 1880er Jahre rabiat, dann eher resigniert ab, als die Stimmen für ‚koloniale Erwerbungen‘ lauter und lauter wurden.“

Auch dies gehört zu Preisendörfers Bismarck-Bild: Während seiner fast drei Jahrzehnte in staatlichen Führungspositionen hatte Bismarck zu keinem Zeitpunkt die Vermehrung des eigenen Besitzes vernachlässigt. „Für das Jahr 1890, das Jahr von Bismarcks Ausscheiden aus dem Amt, berechnete sein Bankier Bleichröder dessen Gesamteinkünfte auf 332 000 Mark. Das war sehr viel […]: In Preußen erzielten damals nur rund 1500 Leute Einnahmen von 100 000 Mark und darüber.“

So weit und so ausführlich zum Namensgeber des Buches.

Jeweils mit eigenen höchst informativen Kapiteln versehen und dies im Umfang weit ausführlicher als die Befassung mit Bismarck hat Preisendörfer im Übrigen solche zeittypischen Perioden, Persönlichkeiten und Phänomene wie Gründerzeit – Gründerkrach, Die alte Gesellschaft (Junker und Adel), Das neue deutsche Leben, Große Fragen oder Große Männer. Wobei auch große Frauen ihre Würdigung finden.

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Eine der zahllosen Anekdoten, die aus Bismarcks Leben überliefert sind, ist folgende: In einem Gespräch mit Christa Gräfin von Eickstedt äußerte Bismarck kurz vor seinem Tode 1898: „Montaigne ließ auf seinen Grabstein meißeln: Peut-etre – vielleicht. Ich möchte mir darauf schreiben lassen: Nous verrons – wir werden sehen.“ Tatsächlich aber stand auf seinem Grabstein, und zwar von ihm selbst bestimmt: „Otto von Bismarck, ein treuer deutscher Diener Kaiser Wilhelms I.“*

Damit zeigte der Alte jenem Regenten, mit dem er immer wieder überkreuz gelegen und der ihn 1890 zur Demission genötigt hatte, nämlich Kaiser Wilhelm II., ein letztes Mal den Daumen.

Bruno Preisendörfer: Als Deutschland erstmals einig wurde. Reise in die Bismarckzeit, Verlag Galiani, Berlin 2021, 447 Seiten, 25,00 Euro.

* – Gefunden bei Margarethe Syring: Höflich bis zur letzten Galgenposse. Anekdoten von Bismarck, Eulenspiegel Verlag, Berlin 1998, 128 Seiten, 9,90 Euro.