24. Jahrgang | Nummer 25 | 6. Dezember 2021

Atomwaffen in Deutschland – ein Nachtrag

von Sarcasticus

„[…] jedem Anfang wohnt ein Zauber inne […].“

Hermann Hesse,
zitiert von der SPD-Co-Vorsitzenden Saskia Esken
mit Blick auf den Start der Ampel-Koalition

In der Blättchen-Ausgabe 24/2021 hatte sich der Autor ausführlich mit dem Thema „Atomwaffen in Deutschland“ befasst. Aus aktuellem Anlass hier ein Nachtrag.

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Als SPD-Wähler darf man darauf zählen, dass nach dem Urnengang das Gegenteil von dem serviert wird, was vorher auf der Speisekarte stand. Dies ist, wenn man so will, beste sozialdemokratische Tradition. Und nicht erst seit der Hartz-Gesetzgebung. Noch etwas gewöhnungsbedürftig nach der jüngsten Wahl ist hingegen der Sachverhalt, dass die Führung der Grünen offenbar mit Verve daran arbeitet, sich ebenfalls ein vergleichbares Image zuzulegen.

Doch der Reihe nach.

Dem diesjährigen Wahlprogramm SPD war zu entnehmen gewesen: „Eine Welt ohne Atomwaffen ist und bleibt das Ziel sozialdemokratischer Außenpolitik. […] Wir brauchen reale Abrüstungsschritte. […] Auch setzen wir uns ein für den Beginn von Verhandlungen zwischen den USA und Russland zur verifizierbaren, vollständigen Abrüstung im substrategischen Bereich mit dem Ziel, die in Europa und in Deutschland stationierten Atomwaffen endlich abzuziehen und zu vernichten.“

Das Wahlprogramm der Grünen enthält ebenfalls Aussagen zu diesen Fragen: „Wir wollen ein Deutschland frei von Atomwaffen und einen Beitritt Deutschlands zum […] Atomwaffenverbotsvertrag. Eine Welt ohne Atomwaffen gibt es nur über Zwischenschritte. Als ersten Schritt sollte Deutschland als Beobachter an der Vertragsstaatenkonferenz teilnehmen.“

Noch während der Koalitionsverhandlungen tauchte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Deutschland auf und vermahnte, worüber ein Leser im Blättchen-Forum informiert hat, die Akteure, ihre intern begonnene Debatte um den Abzug der US-Atombomben aus Deutschland zügig zu beenden. Stoltenbergs klare Ansage: „Ich zähle darauf, dass Deutschland der Nuklearen Teilhabe der NATO verpflichtet bleibt.“

Nukleare Teilhabe, regelmäßige Blättchen-Leser wissen das, ist ein euphemistischer Terminus technicus, damit nicht bei jeder Erwähnung desselben der öffentlichen Wahrnehmung immer wieder sofort ins Auge springt, worum es sich im Kern handelt – nämlich um die „jahrzehntealte Zusage“ Deutschlands, „im Falle eines Angriffs […] Atombomben auf Russland abzuwerfen“. So hat es das Politik-Magazin Politico dieser Tage hilfreich klar in Erinnerung gerufen.

Was den Stoltenberg-Auftritt und die zu erwartende Reaktion der aktuellen Berliner Akteure angeht, so hat der erwähnte Blättchen-Leser auf „Nibelungentreue und artige Gefolgschaft“ getippt. Und er hat Recht behalten! Denn der für die kommenden vier Regierungsjahre zwischen SPD, Grünen und FDP ausgehandelte Koalitionsvertrag – unter dem verbal ambitionierten Leitspruch „Mehr Fortschritt wagen“ – hat nun festgelegt: „Wir werden zu Beginn der 20. Legislaturperiode ein Nachfolgesystem für das Kampfflugzeug Tornado beschaffen. Den Beschaffungs- und Zertifizierungsprozess mit Blick auf die nukleare Teilhabe Deutschlands werden wir sachlich und gewissenhaft begleiten.“

Ersetzt werden soll der Tornado-Kampfbomber in seiner Rolle als Trägersystem für Atomwaffen durch das US-Modell F-18. Dies hatte die letzte Verteidigungsministerin der GroKo, Annegret Kramp-Karrenbauer, im vergangenen Jahr angeschoben. Scharf und sehr grundsätzlich kritisiert worden war das Vorhaben seinerzeit von Rolf Mützenich, dem damaligen Chef der SPD-Bundestagsfraktion: „Atomwaffen auf deutschem Gebiet erhöhen unsere Sicherheit nicht, im Gegenteil. Es wird Zeit, dass Deutschland die Stationierung zukünftig ausschließt.“

Dem Vernehmen nach wird Mützenich die SPD-Bundestagsfraktion auch in der jetzigen Legislaturperiode führen, doch in den Koalitionsverhandlungen hatte er offenbar keine Chance, seine Position in Sachen Nuklearer Teilhabe zum Tragen zu bringen.

Konkret steht damit der Kauf von 30 F/A-18F Super Hornets für den Atomwaffeneinsatz sowie von 15 EA-18G Growler für die einsatzbegleitende elektronische Kampfführung an. Als Kostenpunkt hat der leider viel zu früh verstorbene Blättchen-Mitstreiter Otfried Nassauer einen Betrag zwischen 7,67 Milliarden und 8,77 Milliarden Euro ermittelt.

So sorgt die Ampelkoalition, um es in der Diktion des diesjährigen Wahlprogrammes der Grünen zu sagen, mit ihrem ersten Schritt in Richtung einer atomwaffenfreien Welt dafür, dass der deutsche Part für einen möglichen Einsatz der in der Bundesrepublik stationierten US-Atomwaffen gegen Russland für weitere Jahrzehnte funktionsfähig bleibt. Und nicht nur das. Denn die auf dem Fliegerhorst Büchel der Bundesluftwaffe in der Eifel gelagerten veralteten atomaren US-Gravitationsbomben vom Typ B61-3 und B61-4, die als sogenannte substrategische, vulgo taktische Kernwaffen eingestuft sind und die bisher von Tornados abgeworfen werden sollten, werden in absehbarer Zeit – und im Übrigen nicht zwangsläufig erst nach Zustimmung durch die Bundesregierung – durch das Nachfolgemodell B61-12 ersetzt werden. Eine Lenkwaffe mit erhöhter Treffgenauigkeit, die nach Auffassung von Experten auch zur Vernichtung strategischer Ziele tauglich sein wird (siehe ausführlicher Blättchen-Ausgabe 1/2014 und Hans Kristensen von der Federation of American Scientists).

Man darf gespannt sein, wie die Ampelkoalitionäre vor diesem Hintergrund zwei weitere Zielvereinbarungen ihres gemeinsamen Vertrages verfolgen werden:

  • „Unser Ziel bleibt eine atomwaffenfreie Welt […] und damit einhergehend ein Deutschland frei von Atomwaffen.“
  • „Wir setzen uns für Verhandlungen zwischen den USA und Russland zur vollständigen Abrüstung im substrategischen Bereich ein.“

Doch Annalena Baerbock, die mutmaßliche erste deutsche Außenministerin, kommt ja nach eigenen Worten „eher aus dem Völkerrecht“. Da wird ihr schon etwas einfallen.

Dieser Beitrag wurde abgeschlossen am 30.11.2021.