24. Jahrgang | Nummer 22 | 25. Oktober 2021

Über unrecht Gut

von Wolfgang Brauer

Sophie Schönberger, Professorin für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, versucht sich an einer scheinbaren Quadratur des Kreises. In ihrem Essay „Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie“ diskutiert sie die Problematik des Umganges mit Kulturgütern, deren Herkunft zumindest umstritten ist, im Bestand der öffentlichen Museen der Republik.

Vornehmer nennt man das aktuell nicht „Herkunft“, sondern „Provenienz“. Aus dem ursprünglich museologischen Fachbegriff wurde ein solcher des politischen Diskurses. Wenn von „Provenienzforschung“ die Rede ist, ist in der Regel nicht die Erforschung der Objektgeschichte gemeint, die für den kompletten Bestand eines Museums, einer Galerie, einer Bibliothek als selbstverständlich gelten sollte – warum, zum Teufel, wird da in manch verfitzten Hirnen die Erwerbsgeschichte abgetrennt? „Provenienzforschung“ im aktuellen Verständnis befasst sich vorzüglich mit Objekten anrüchiger Herkunft, deren Übergabe – „Restitution“ – an tatsächliche oder vermeintliche Eigentümer zumindest im Bereich des Wahrscheinlichen liegt. So ganz nebenbei hat sich daraus ein durchaus lukratives Gewerbe entwickelt. Da die öffentlichen Museen und Sammlungen in den letzten beiden Jahrzehnten bundesweit mit wenigen Ausnahmen personell vielfach bis an die Schließungsgrenze kaputtgespart wurden, können sie natürlich ihre Kernaufgaben kaum noch erfüllen. Die augenblickliche Großmäuligkeit der Kulturpolitiker in der Restitutionsfrage verdeckt diese Blößen nur notdürftig.

Wer die Restitutions-Debatten der zurückliegenden drei Jahrzehnte – vor der „Wiedervereinigung“ spielte das Thema in der Öffentlichkeit beider deutscher Staaten aus unterschiedlichen Gründen kaum eine Rolle – einigermaßen versucht im Überblick zu behalten, wird schnell verzweifeln. Die Gemengelage ist extrem vielschichtig. Sie nimmt einigermaßen irrationale Züge an, sobald politische Aspekte eine Rolle spielen. Die angesichts der nicht wieder gut zu machenden Verluste der Sowjetunion durch den deutschen Raub- und Vernichtungsfeldzug ab Juni 1941 geradezu perverse Debatte um die „Beutekunst“ in postsowjetischen Sammlungen ist das sprechendste Beispiel für diese Problematik.

Eigentlich dürfte das Problem kein Problem sein.

Wie kommt eine Museumssammlung zustande? Genaugenommen gibt es nur zwei akzeptable Wege: Erwerb oder Schenkung respektive Stiftung. Über beide Rechtsakte gibt es nachvollziehbare Belege. Die geben auch darüber Auskunft, ob der Erwerb oder die Schenkung heutigen moralischen Kriterien genügen oder nicht. Sophie Schönberger verweist auf die Erfahrungen im Umgang mit der sogenannten NS-Raubkunst, deren Restitution „zu etwas Selbstverständlichem geworden [sei], das in der Sache praktisch nicht mehr in Frage gestellt wird“. Allerdings gibt es hier eine international akzeptierte Verständigung, die sogenannte „Washingtoner Erklärung“ aus dem Jahre 1998, der sich kein Staatswesen mehr entziehen kann.

Kaum noch, muss man gerechterweise relativieren … Und peinliche Eiertänze werden auch in Deutschland aufgeführt, sobald Privatpersonen – wie letztens der Gurlitt-Erbe – ins Spiel kommen.

Ganz anders verhält es sich mit Erwerbskontexten, die im Falle nichtstaatlichen Handelns sofort die Staatsanwaltschaft auf den Plan rufen (sollten): Gerät Raubgut auf den Kunstmarkt, wird es selbstverständlich beschlagnahmt und an den Eigentümer übergeben. Immer wieder tauchen solche Fälle mit mesoamerikanischem, ägyptischem oder vorderasiatischem Kulturgut in der Presse auf. Aber auch hier spielt gelegentlich Politisches mit.

1979 wurden aus den Gothaer Kunstsammlungen fünf wertvolle Gemälde geraubt, die vor einigen Jahren dem Gothaer Oberbürgermeister zum Kauf angeboten wurden. Gotha ist stolz darauf, dass es eine Millionenforderung auf 30.000 Euro für „Transportkosten“ und ähnlich Mysteriöses herunterhandeln konnte. Hier ist das bundesdeutsche Verjährungsrecht eine geradezu anachronistische Hürde. Nach zehn Jahren unangefochtenem Besitz hat man sich auch im Falle von „gutgläubig erworbener“ Hehlerware Eigentumsrechte „ersessen“ … Dass die Stiftung Schloss Friedenstein diese Bilder jetzt wieder präsentiert, ist ein Glücksfall. Eine Unverschämtheit sondergleichen ist es allerdings, sie in einem Ausstellungszusammenhang – „Wieder zurück in Gotha! Die verlorenen Meisterwerke“, 23. Oktober 2021 bis 21. August 2022 – mit den in Russland befindlichen „Beutekunst“-Werken zu präsentieren.

Sophie Schönberger hält sich aber nicht lange mit juristischen Finessen auf. Sie untersucht eher die Frage, welche Probleme im Umgang mit Kulturgütern auftreten, die „zu einem zentralen Instrument geworden [sind], um einen Umgang mit einer Vergangenheit zu finden, die voller Unrecht ist“. Die Autorin weiß – und weist entsprechend darauf hin –, dass die jeweiligen Rechtssysteme in Restitutionssachen nicht unbedingt kompatibel sind. Häufig fehlen rechtliche Grundlagen überhaupt.

Noch schwieriger wird die Antwort auf die Frage, wem denn im Rückerstattungsfalle die Objekte zukommen. Kürzlich protestierten politische Vertreter der Hereros gegen die Rückgabeumstände von durch die deutsche „Schutztruppe“ im Vernichtungskrieg gegen ihre Vorfahren geraubtem Kulturgut: Aus ihrer Sicht gab die Bundesregierung die Artefakte an namibische Politiker zurück, die nicht berechtigt seien, das Volk der Herero zu vertreten. Das Auswärtige Amt brillierte in der Sache durch eine absolute Unkenntnis der realen innenpolitischen Gegebenheiten Namibias.

Es steht zu befürchten, dass ähnliche „alte Wunden und aktuelle Konflikte innerhalb der Herkunftsgesellschaften“ (Schönberger) im Falle der Benin-Bronzen aufbrechen werden, deren Rückgabe an Nigeria Kulturstaatsministerin Monika Grütters vor einiger Zeit vollmundig verkündet hatte. Abgesehen davon, dass an diesen Objekten tatsächlich Blut und Leid kleben und es sich um klassische Hehlerware handelt – eine vorherige Verständigung mit den Erben der „Stehler“, konkret der britischen Regierung und dem British Museum, wäre auch im Interesse der Nachkommen der Bestohlenen und Beraubten zwingend gewesen. „Nur allzuschnell kann die erstrebte Gerechtigkeit zur Selbstgerechtigkeit werden“, warnt Sophie Schönberger.

Kunstwerke erhalten im Verlaufe dieser Prozesse zusätzlich zu ihrer sowieso schon häufigen religiösen Kontextuierung eine weitere, semireligiöse Bedeutung: Meine Vorfahren brachen in einen Tempel ein, erschlugen die Priester, raubten die Zeremonialinstrumente und stellten sie in einem Museum unter dem Signet „Weltkultur“ aus. Jetzt gebe ich sie zurück an die Nachkommen der Ausgeraubten und Gemordeten, leiste mithin späte Sühne und alles ist wieder gut … Die Autorin nennt das „restaurative Nostalgie“.

Nein, nichts ist gut. Was geschehen ist, ist geschehen. Geschichte kann nicht „zurückgeholt“ werden.

Sophie Schönberger weist auf die Gefahren solchen Tuns hin: „Die Aufgabe des Museums, Geschichte zu zeigen und anschaulich zu machen, wird dann durch das Zurückgeben paradoxerweise auf eine Art erfüllt, die das historische Unrecht ausblendet und überspielt, statt es zu zeigen.“ Als Beleg für diese These führt sie nicht etwa Artefakte aus völkerkundlichen Sammlungen an. Sie verweist auf ein Spitzenwerk der Berliner Alten Nationalgalerie, Caspar David Friedrichs „Der Watzmann“ (1824/25). Das dem jüdischen Eigentümer Martin Brunn 1937 von den Nazis abgepresste Gemälde fand auf verschlungenen Wegen in die Galerie. „Diese Geschichte des Bildes wird heute in der Museumsausstellung praktisch ausgelöscht“, befindet Schönberger. Sicher ungewollt wird der Name Martin Brunn damit zum zweiten Male im Zusammenhang mit dem ihm einstmals gehörenden Bilde getilgt. Für Brunns Erben, die seinerzeit bereit waren, das Bild wieder nach Berlin zu geben, muss das ein Schlag ins Gesicht sein.

Sophie Schönbergers Fazit: „Bei allem Wunsch der Heilung, den die restaurative Nostalgie auslöst, muss sie damit leben, dass historisches Unrecht nie geheilt und nie ungeschehen gemacht werden kann. Es muss vergeben werden.“

Und hier liegt der Spielball auf dem Feld der Politik. Museen sind damit eindeutig überfordert. Der in der Edition Mercator bei C. H. Beck erschienene Band vermag dazu wertvolle Anregungen zu geben. Sowohl der Deutsche Bundestag als auch die Parlamente der Bundesländer sollten ihn allen Mitgliedern ihrer Kulturauschüsse auf den Tisch legen. Die Fragestellungen, die Sophie Schönberger aufwirft, werden derzeit allzugern unter den Teppich gekehrt. Sie kommen aber regelmäßig wieder hervor. Meist dann, wenn niemand mehr damit rechnet.

Sophie Schönberger: Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie, C. H. Beck, München 2021, 158 Seiten, 14,95 Euro.