24. Jahrgang | Nummer 19 | 13. September 2021

Christa Wolfs „Erfahrungen mit dem Leben“

von Manfred Orlick

Christa Wolf gehört zweifellos zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; ihr umfangreiches erzählerisches Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet. Mit der dreibändigen Suhrkamp-Neuerscheinung „Sämtliche Essays und Reden“ kann man Wolf nun auch als glänzende Essayistin und engagierte Beobachterin der Gesellschaft kennenlernen.

Bereits in einem Interview aus dem Jahre 1973 bekannte die Schriftstellerin, dass zwischen ihrer Prosa und ihrer Essayistik kein grundsätzlicher Unterschied bestehe. Ihre gemeinsame Wurzel sei „Erfahrung, die zu bewältigen ist: Erfahrung mit dem ‚Leben‘ – also der unvermittelten Realität einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gesellschaft –, mit mir selbst, mit dem Schreiben, das ein wichtiger Teil meines Lebens ist, mit anderer Literatur und Kunst. Prosa und Essay sind unterschiedliche Instrumente, um unterschiedlichem Material beizukommen.“

Weitgehend sind das auch die Themen ihrer Essays und Reden, die in chronologischer Reihenfolge ihrer Entstehung in der Ausgabe versammelt sind. Unter dem Titel „Lesen und Schreiben“ präsentiert Band 1 die Texte von 1961 bis 1980. Seit Ende der 60er Jahre hatte Wolf begonnen, das Genre des Essays zu nutzen, um ihr eigenes Schreiben zu reflektieren. Der umfangreiche und titelgebende Essay aus dem Jahre 1968, der aber erst 1971 die Druckgenehmigung erhielt, gilt als Kernstück der Poetik Christa Wolfs. Die Schriftstellerin setzte sich nach ihrem Roman „Nachdenken über Christa T.“ (1968) mit der Rolle der Prosa in der modernen Gesellschaft auseinander. Ausgehend von Büchners „Lenz“-Novelle erläuterte sie hier – nach ihrer Abkehr vom sozialistischen Realismus – ihr neues Schreibkonzept. Sie plädierte für eine Schreibart, die sich nicht von einem ideellen System herleiten lässt, sondern den Menschen in den Mittelpunkt rückt. In ihrem Günderrode-Essay (1979) griff Wolf dann ausführlich das Thema Entfremdung auf. Vorläufiger Höhepunkt der Entfremdung war die Ausbürgerung Wolf Biermanns Ende 1976; die Petition von prominenten Schriftstellern zur Rücknahme dieser Maßnahme hatte sie als eine der ersten unterschrieben. In dem Auftaktband findet man aber auch ihre Diskussionsbeiträge zur zweiten Bitterfelder Konferenz 1964 und zum VII. Schriftstellerkongress der DDR 1973.

Band 2 mit dem Titel „Wider den Schlaf der Vernunft“ versammelt Essays und Reden aus den 80er Jahren – von der Laudatio zur Verleihung des Lion-Feuchtwanger-Preises an Günter de Bruyn 1981 bis zum Gedächtnis an Filmregisseur Konrad Wolf (1990), der 1964 ihren Roman „Der geteilte Himmel“ verfilmt hatte. Im Mittelpunkt des Bandes stehen jedoch Texte der kritischen Zeitgenossin Christa Wolf, mit denen sie sich immer wieder in gesellschaftliche Debatten einmischte. Mit ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1979–1983) gab sie Einblicke in die Arbeit an ihrem Roman „Kassandra“, der im Anschluss erschien und große internationale Beachtung fand. Mit ihren Redebeiträgen im Wende-Herbst 1989 (in der Berliner Erlöserkirche, auf dem Alexanderplatz oder vor dem Schriftstellerverband) forderte sie einen demokratischen Dialog zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR.

Im dritten Band „Nachdenken über den blinden Fleck“ (1991–2010) finden sich zahlreiche Texte über ihre Beziehungen zu befreundeten Autorinnen und Autoren oder über Begegnungen mit Menschen und Werken, die sie prägten. Ob Preisrede, Vorwort oder Nachruf – in diesen schriftlichen Zeugnissen freundschaftlicher Verbundenheit zeichnete sie in wenigen charakteristischen Zügen ein Porträt von Freunden und Kollegen. Die intensive Beschäftigung mit Anna Seghers zieht sich durch Wolfs gesamtes Werk, so dass auch in ihrer Essayistik Texte zu Seghers, in der sie eine Art „Orientierungshilfe“ sah, einen großen Raum einnehmen. Zahlreiche Beispiele dieser permanenten Auseinandersetzung finden sich in allen drei Bänden. In ihren beiden letzten Lebensjahrzehnten zeigte Wolf auch großes Interesse an bildender Kunst. Beispielhaft war hier ihre Freundschaft zu Nuria Quevedo, die mit ihren Eltern aus Francos Spanien in die DDR emigriert war. Zwei kurze Würdigungen zu diesem Thema beschließen die dreibändige Edition: ein „Zwiegespräch mit Bildern von Ruth Tesmar“ und ein Dialog mit den „Bildern aus Asche“ von Günther Uecker.

Deutlicher als ihre Prosa zeigen die Essays und Reden Christa Wolf als eine kritische, ja widerständige Schriftstellerin in beiden deutschen Staaten. Die dreibändige Ausgabe basiert auf der Werkausgabe, die die Literaturwissenschaftlerin Sonja Hilzinger von 1991 bis 2001 herausgegeben hat. Die nach 2000 entstandenen Reden und Essays erschienen bereits 2006 und 2012 in zwei Sammlungen. In den Nachworten der einzelnen Bände beschreibt Hilzinger die jeweils zugrunde liegenden Erfahrungsbereiche der Essays und Reden und folgt dabei soweit möglich den thematischen Schwerpunkten der drei Bände. Darüber hinaus gibt es zu jedem Text kompakte Informationen zu Entstehung, Erstveröffentlichung, Druckvorlage und Anlass.

Christa Wolf: Sämtliche Essays und Reden. Suhrkamp Berlin 2021, 1800 Seiten, 36,00 Euro.