24. Jahrgang | Nummer 9 | 26. April 2021

Unendliche Weiten …

von Mathias Iven

Ja, die liegen vor einem, wenn man mit Auf der Suche nach der verlorenen Zeit das Proust-Universum betritt. Da braucht es Hilfestellung und einen zuverlässigen Kompass. Für eine erste Erkundung empfiehlt sich beispielsweise das Proust-ABC von Ulrike Sprenger. Die überarbeitete und erweiterte Neuausgabe liefert Erläuterungen zu 147 Begriffen. Schaut man ins Inhaltsverzeichnis, das von „Abraham“ bis „Zimmer“ reicht, ist man von der Stichwortauswahl überrascht. Im Vorwort zur Erstauflage von 1997 hieß es, die Autorin sei „mit großer Lust ganz persönlichen, auch abgelegenen Fragen nachgegangen“, wobei es ihr vor allem darum gegangen sei, „die kleinen Dinge eines großen Textes sichtbar zu machen und zu deuten“. Ohne Zweifel ist das hervorragend gelungen!

Zu den „kleinen Dingen“, denen Sprenger in den 19 neu aufgenommenen Artikeln ihr Augenmerk schenkt, gehört zum Beispiel das Aquarium: Sinnbild für die in Paris zur Entstehungszeit von Prousts Roman herrschende „Unterwasser-Manie“. – Was fällt ihnen ein, wenn sie an eine Birne denken? Sicherlich nicht die damals gebräuchliche Verwendung des Wortes „poire“ als Bezeichnung für einen einfältigen Menschen. – Und wie war das mit dem Firnisgeruch, der das Treppenhaus durchströmt, das Marcels Alter-Ego Abend für Abend auf dem Weg in sein Zimmer, „oft ungeküsst und unglücklich“, durchqueren muss?

Neben den Dingen stehen die Personen. Da taucht ein Mann namens Jean François de Galaup (de) La Pérouse auf. Doch Proust geht es gar nicht um diesen französischen Entdecker, sondern um Odette de Crécy, die spätere Madame Swann. Die wohnt in der Rue La Pérouse – und dann, so bezugsreich und verwirrend sind Prousts Anspielungen oft, gibt es ja auch noch das Restaurant Lapérouse … – Die amerikanische Tänzerin Loïe Fuller, die ab 1892 in Paris lebte und mit ihrem „Serpentinentanz“ Furore machte, wird in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit an keiner Stelle erwähnt. Sprenger ist allerdings auf einen Satz gestoßen, der darauf hindeutet, dass Proust sie auf der Bühne gesehen hat. – Am 15. Mai 1922, wenige Monate vor Prousts Tod, kam es im Pariser Hotel Majestic zu einer legendären Begegnung zwischen ihm und James Joyce. Was passierte damals? Auch darauf weiß Ulrike Sprenger eine Antwort.

Mancher erinnert sich vielleicht noch an den Sketch von Monty Python, im Proust-ABC beschrieben unter dem Stichwort The All-England Summarize Proust Competition. Bei diesem Wettbewerb ging es darum, den Inhalt von Prousts Roman in 15 Sekunden zusammenzufassen – alle Teilnehmer scheiterten. Hätte sich Alexander Kluge beteiligt, wäre möglicherweise er zum Sieger gekürt worden. Schafft er es doch, in seinen dem ABC vorangestellten Überlegungen, rund 5000 Seiten in einen einzigen Satz zu fassen: „Es geht um die Neuordnung der Eindrücke, das Entstehen neuer Übersichtlichkeiten in den Labyrinthen der Erfahrung.“

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Einer der ersten, der den deutschsprachigen Proust-Lesern den Weg durch die „Labyrinthe der Erfahrung“ aufzeigte, war der Romanist Ernst Robert Curtius (der im Übrigen auch James Joyce für Deutschland entdeckte). Bereits im Februar 1922 veröffentlichte er in der Zeitschrift Der Neue Merkur eine kürzere Abhandlung, die Proust nur wenig später in die Hände bekam. Allerdings musste der „die traurige Feststellung machen, dass [er] kein Wort Deutsch mehr“ konnte. Dennoch bedankte er sich umgehend bei Curtius. Woraufhin dieser antwortete: „Die Lektüre Ihrer Bücher gehört für mich zu den reinsten und größten geistigen Freuden, die mir die letzten Jahre gebracht haben. Sie haben meiner Liebe für Frankreich neue Gründe gegeben.“ Erst Monate später wandte sich Proust erneut an seinen einzigen deutschen Briefpartner. Für die verzögerte Antwort entschuldigte sich der von seiner rasch fortschreitenden Krankheit Gezeichnete mit den Worten: „Ich habe nacheinander meine Stimme, mein Augenlicht, meine Bewegungsfähigkeit eingebüßt (es sei denn, ich riskiere bei jedem Schritt einen Sturz).“ Ein weiterer Brief von Curtius, der Proust vier Wochen vor dessen Tod erreichte, blieb unbeantwortet.

Im Sommer 1925 erschien unter dem Titel Französischer Geist im Neuen Europa in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart ein Band mit Aufsätzen von Ernst Robert Curtius. Die bemerkenswerteste Arbeit darin war sein Proust-Essay, den der Autor später separat publizierte und der jetzt in einer wohlfeilen, mit zahlreichen Faksimiles ausgestatteten Ausgabe des Schöffling Verlages vorliegt. Obwohl Prousts Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch nicht vollständig vorlag, widmete ihm Curtius mehr als 100 Seiten. Seine Begründung: „[S]chon heute hat sein Werk eine solche Ausdehnung und Fülle, ein solches Leben und eine solche Tiefe, dass es zur Betrachtung und Analyse drängt.“

Nach einem kurzen Lebensabriss weist Curtius am Text von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nach, was Proust zu einem großen Schriftsteller macht. Er nähert sich dessen Werk über Begriffspaare – wie Intuition und Ausdruck, Vergänglichkeit und Erinnerung oder Klassizismus und Ästhetizismus. Beachtung verdienen die von Curtius getroffenen Verallgemeinerungen. So wenn er mit Blick auf das Verhältnis von Kunst und Erkenntnis schreibt: „Der Künstler erfindet nicht, er findet etwas vor. Kunst ist nicht Erfindung, sondern Auffindung.“ Oder wenn er die von Einsteins Relativitätstheorie beeinflusste Debatte auf Prousts Werk bezieht und schlussfolgert: „Zeit und Raum sind bloße Modi der Erinnerung und stehen in Wechselwirkung.“ Am Schluss steht auch bei Curtius die Frage, worin die Besonderheit von Prousts Stil besteht. Da sind die zahllosen Metaphern, die dieser als „Mittel zur Erzielung eines genauen Anschauungsbildes“ nutzt, und da ist dessen eigenartiger Satzrhythmus – beides wird von Proust eingesetzt, um eine „möglichst exakte Wiedergabe seelischer Tatbestände“ zu erreichen.

Curtius, dessen Schülerin Eva Rechel-Mertens wir die erste deutsche Gesamtübersetzung von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit verdanken, hätte gleichfalls an der oben erwähnten Competition teilnehmen können. Sein Fazit lautete: „Die Kunst Prousts lässt sich in keine ,Strömung‘ des Zeitgeistes eingliedern. […] Sie will der Zeit nicht vorauseilen – sondern sie will aus der Zeit hinausschreiten.“

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Paris, Boulevard Haussmann 102. Ende 1906 bezog Proust dort seine erste eigene Wohnung. Zu den Nachbarn gehörten die Familie des Allgemeinmediziners Dr. Gagey sowie zwei Zahnärzte: Dr. Wittig und ab November 1908 Dr. Charles D. Williams mit Frau. Zu den Letztgenannten hieß es in den 1973 publizierten Erinnerungen von Prousts Haushälterin Céleste Albaret: „Williams war ein Sportler, der jeden Samstag mit seinem Chauffeur zum Golfspielen fuhr. Er hatte eine Künstlerin geheiratet, die sehr distinguiert, sehr parfümiert war; sie bewunderte Monsieur Proust und hatte es ihm auch geschrieben. Ich erinnere mich, dass sie Harfe spielte.“ – Wer war diese mysteriöse Dame?

Vor acht Jahren kam ein wenig Licht in das Dunkel. Da erschien in Frankreich, herausgegeben von dem Proust-Biographen Jean-Yves Tadié, ein schmales Bändchen mit dem Titel Lettres à sa voisine. Durch Zufall waren Prousts Briefe an seine Nachbarin aufgetaucht: dreiundzwanzig, zumeist undatierte Schreiben, entstanden zwischen 1908 und 1916. Empfängerin war die nur zwei Etagen über ihm wohnende Marie Williams, deren Gegenbriefe offenbar verschollen sind. Geboren wurde sie 1885 als Marie Pallu. Charles D. Williams – der „kleine Alte mit den gelben Handschuhen“, wie ihn Proust in Im Schatten junger Mädchenblüte beschrieb – war ihr zweiter Mann. In seiner Einleitung betont Tadié: „Die gängige Meinung über Proust als Briefschreiber muss korrigiert werden.“ Denn gerade in diesen Briefen zeigt sich, dass er „die Gefühle des anderen [erfasst], bevor dieser selbst sich ihrer ganz bewußt wird“ und sie zudem „lebhafter als dieser andere“ empfindet.

Worum geht es in den jetzt auch auf Deutsch vorliegenden Briefen? Hauptthema ist Prousts Lärmphobie. Die mit dem Einzug der Familie Williams beginnenden Umbauarbeiten bringen ihn um seinen Schlaf. Und so bittet er, der es gewohnt ist, die Nacht zum Tag zu machen, die Arbeiten doch auf die späten Nachmittags- oder frühen Abendstunden zu verlegen. Und er fügt hinzu: „Ich zähle unbedingt darauf, dass Sie mir sagen, was ich Ihnen für die Kosten schulde, die Ihnen durch die Verschiebung der Arbeitszeiten entstehen.“

Schnell entwickelt sich ein von immer größerer Intimität geprägter Ton zwischen den Briefpartnern. Proust fragt nach dem aus ihrer ersten Ehe stammenden Sohn, interessiert sich für den Gesundheitszustand von Marie Williams und spendet Trost, wenn ihr Ehemann wieder einmal auf Reisen ist. „Könnte ich Ihnen nicht Bücher schicken?“, fragt er an. „Sagen Sie mir, was Sie ablenken würde, es würde mich glücklich machen.“ Mit Blick auf ihr Interesse an seinem Werk gibt er allerdings zu bedenken: „Nur muss man, wenn man dreibändige Werke in einer Zeit verfasst, in der die Verleger lediglich einen Band auf einmal veröffentlichen wollen, sich damit abfinden, nicht verstanden zu werden, da sich der Schlüsselbund nicht im selben Gebäude wie die geschlossenen Türen befindet.“

Der letzte Brief stammt vom 22. Dezember 1916. Bis zum Frühsommer 1919, als das Haus an eine Bank verkauft wurde und alle Mieter sich nach neuen Wohnungen umsehen mussten, lebte man unter einem Dach – doch weitere Briefe haben wir nicht. Und was wurde aus Marie Williams? Sie ließ sich scheiden und heiratete in dritter Ehe den in Kiew geborenen, auf Chopin spezialisierten Pianisten Alexander Brailowsky. Mit nicht einmal fünfzig Jahren nahm sie sich 1931 das Leben.

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Im Vorwort zu Ulrike Sprengers Proust-ABC schreibt Alexander Kluge: „Ich glaube, dass unsere Zeit uns, auch mit dem Zeichen des Virus, den Gebrauch unserer Sinne und den Gebrauch der Schrift neu lehrt.“ Ob es wirklich so kommen wird? Am 26. März 2020 fand sich im britischen Guardian eine Kolumne von Suzanne Moore mit der Überschrift: „They can lock me down, but they can’t make me read Proust“ („Man kann mich einem Lockdown unterwerfen, aber nicht dazu bringen, Proust zu lesen“). Doch warum sollte man sich in einer Situation wie der jetzigen eigentlich nicht dem Werk von Marcel Proust zuwenden? Zumindest wäre es eine lohnende Herausforderung.

Ulrike Sprenger: Das Proust-ABC. Mit einem Vorwort von Alexander Kluge, Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2021, 318 Seiten, 20,00 Euro.

Ernst Robert Curtius: Marcel Proust. Mit Übersetzungen und einem Nachwort von Michael Kleeberg, Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt a. M. 2021, 200 Seiten, 24,00 Euro.

Marcel Proust: Briefe an seine Nachbarin. Herausgegeben und kommentiert von Estelle Gaudry und Jean-Yves Tadié, aus dem Französischen von Bernd Schwibs, mit einem Essay von Andreas Maier, Insel Verlag, Berlin 2021, 117 Seiten, 14,00 Euro.