24. Jahrgang | Nummer 5 | 1. März 2021

Die „Grüne Bibliothek“

von Jochen Mattern

Kultureinrichtungen wie Theater, Orchester, Museen und Bibliotheken sind seit Jahren einem ständigen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Mit Hilfe von quantifizierenden Diagnoseinstrumenten – Auslastung, Besucherzahlen, Drittmitteleinwerbung – werden sie auf ihre Wirtschaftlichkeit geprüft. Wer wenig an messbarer Menge vorzuweisen hat, der kann bestraft werden: mit weniger Geld und weniger Personal. Nur Musentempel mit einem hohen Prestigewert für ein Land oder eine Kommune sind davon ausgenommen. Ihnen werden großzügige Sonderkonditionen gewährt. In allen übrigen Kultureinrichtungen ist Schmalhans der Küchenmeister. Angesichts der Coronavirus-Seuche steigt der Druck auf die Kultureinrichtungen.

Zum betriebswirtschaftlichen Aspekt kommt ein weiterer hinzu: die Umweltverträglichkeit. In der politisch verordneten Betriebspause haben die Theater, Orchester, Museen et cetera deshalb ihre Klimabilanz überprüft und, wo möglich, Schritte zu deren Optimierung unternommen. Einer pessimistischen Prognose von Experten zufolge gebe die Bekämpfung des Corona-Virus lediglich einen Vorgeschmack auf das, was uns bevorsteht, sollte sich die Klimakrise zuspitzen. Infolgedessen fühlen sich auch die Bibliotheken verpflichtet, ihrerseits einen Beitrag für eine bessere Klimabilanz zu leisten. Eine umweltfreundliche Bibliothek ist zu begrüßen. Nur muss sie mit dem Abschied von der Buch- und Lesekultur einhergehen, wie er mit einer „Grünen Bibliothek“ droht?

Was hat man sich unter einer Bibliothek mit dem Attribut „grün“ vorzustellen? Eine verbindliche Definition dessen, was sie ausmacht, fehlt. Insofern kann der Katalog an fälligen Umbaumaßnahmen beliebig variiert und erweitert werden, je nach den örtlichen Gegebenheiten. Bei genauem Hinsehen erweist sich der Name jedoch als irreführend. Im Szenario eines Umbaus von Bibliotheken zu einer multifunktionellen Einrichtung spielen die Buch- und die Lesekultur eine untergeordnete Rolle. Dennoch schickt sich ein ganzes „Netzwerk“ von Bibliotheken an, zur grünen Einrichtung zu werden.

In Ostberliner Bibliothekskreisen zirkuliert der Text eines Bibliotheksfunktionärs, der beim Personal und den Nutzern für Aufregung sorgt. Die darin formulierte „Vision“ von einer „Grünen Bibliothek“ ruft ein geteiltes Echo hervor: begeisterte Zustimmung auf der einen Seite, Ablehnung und Kritik auf der anderen. Für den Umbau der Heinrich-Böll-Bibliothek zu einem „Dritten Ort“, respektive zu einer „Plattform für die lokale Zivilgesellschaft“ listet deren Leiter die folgenden Maßnahmen auf:

  • Künftig wird die Einrichtung in Pankow Urban Gardening betreiben, also Obst und Gemüse anbauen. Das Gärtnern firmiert unter dem Namen „Essbare Bibliothek“. (Weil Bibliotheken per se jedoch nicht essbar sind, Menschen sich an ihnen höchstens die Zähne ausbeißen, ist das sprachlicher Unsinn.)
  • Des Weiteren wird eine Bienenzucht angestrebt, wozu es der „Kooperation mit einer Imkerei“ bedarf, die das nötige Know-how zur Verfügung stellt.
  • Hinzu kommt ein „RepairCafé mit Fahrradwerkstatt“.
  • An eine Begrünung des Flachdaches und an die Sammlung von Müll in- und außerhalb der Einrichtung ist gedacht.
  • Im Haus soll der Wasserverbrauch gesenkt werden – ein Vorsatz, der sich schlecht verträgt mit einem außerhäuslichen Wassermehrverbrauch durch Garten und Werkstatt.

Bücher finden in dem visionären Katalog nur am Rande Erwähnung, und das auch nur, weil sie, wie die Einrichtung insgesamt, eine umweltfreundliche Verpackung erhalten sollen.

„Eine exakte Zielsetzung für die Böll als Grüne Bibliothek“ verbindet der „Visionär“ mit den hier unvollständig angeführten Umbaumaßnahmen nicht, dennoch steht eines für deren Leiter unumstößlich fest: Die klassische Bibliothek sei nicht mehr zeitgemäß. Mit der neuen Zeit gehen laute das Gebot der Stunde, Aufschub könne nicht geduldet werden. „Die neue Rolle von Bibliotheken“, bestehe darin, „nicht nur Bücher, sondern auch Menschen zusammenbringen, da auch sie Träger*innen von Wissen“ seien.

Eine zwar zeitgemäße, doch armselige Vorstellung von Lesekultur fokussiert auf Lesen als schnelle Informationsentnahme aus Texten, um Wissen daraus zu destillieren, das nutzbringend auf dem Arbeitsmarkt verwertbar ist. Zweifellos, das erwerbsmäßige Lesen oder, wie es in den PISA-Tests heißt, die Lesekompetenz dominiert die Art zu lesen heutzutage und hat durchaus ihre Bedeutung für Mensch und Gesellschaft. Doch Lesen bedeutet viel mehr. Wer liest, Lyrik zum Beispiel oder Belletristik, dem öffnet sich eine unbekannte Welt, wodurch der eigene Erfahrungs- und Denkhorizont sich weitet, die Imaginationskraft und das Reflexionsvermögen gestärkt werden (können). Im Austausch von Gelesenem fördern Bibliotheken die Begegnung von Büchermenschen, was sie zu „Stätten überindividueller Sozialisation“ macht. Hobbygärtner und -imker sowie Radfahrer müssen zwar nicht, aber können auf Bücher verzichten. Mit ihnen hielte ein profanes, geschäftsmäßiges Treiben Einzug in Orte, die einmal eine andere Funktion hatten: Den Lesern Räume und professionelle Beratung für Sammlung und Muße zu bieten, um sich der Lektüre von Büchern widmen zu können. Hätten Bibliotheken hier nicht ein gesellschaftlich bedeutsames Betätigungsfeld oder sollen auch sie künftig allein an Zahlen (der ausgeliehenen Bücher) gemessen werden?

Die Kritiker einer „Grünen Bibliothek“ wehren sich dagegen, die Buch- und Lesekultur ins Abseits zu drängen. Sie bestreiten, dass eine Bibliothek, die Bücher aussortiert, um sie zu vernichten, weil die über längere Zeit keinen Leser gefunden haben, das Attribut „grün“ verdient. Sie verneinen, dass die klassische Funktion von Bibliotheken ein Anachronismus sei, der eine Entprofessionalisierung der Einrichtung und des Personals erfordere. Im klassischen Bibliotheksbetrieb sehen die Kritiker einer „Grünen Bibliothek“ nicht das Hindernis, sondern die Voraussetzung für einen reflektierten Umgang mit gesellschaftlichen Konflikten, den Klimawandel eingeschlossen.

Doch es ergeht den Kritikern wie den Büchern; von den Befürwortern, denen sie an Zahl unterlegen sind, werden sie aufs Abstellgleis gesetzt. Da sie zumeist den älteren Jahrgängen im Bibliothekswesen angehören, erspart man sich eine Auseinandersetzung in der Sache und greift stattdessen die Person an. Als Ewiggestrige hingestellt, die die Zeichen der Zeit nicht verstünden und immer zu nörgeln hätten, ziehen die Kritiker vor, zu schweigen. Disziplinarische Maßregeln, auch wenn sie als solche nicht gleich erkennbar sind, können nicht ausgeschlossen werden. Den Triumphgesang, der den Aufbruch zu neuen Ufern begleitet, haben die Kritiker, noch gut im Ohr: „Mit uns zieht die neue Zeit […] und keiner wagt zu hadern“.

So also sieht sie aus, die schöne neue Welt der „Grünen Bibliothek“.