23. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2020

Allein oder Nicht allein – das ist hier die Frage

von Joachim Lange

Die Gretchenfrage, ob es sein oder nicht sein muss, den Hamlet von einer Frau spielen zu lassen, stellt sich im Falle von Sandra Hüller nicht. Die in Suhl geborene, in Bochum und Leipzig lebende und viel gefragte Schauspielerin von Format ist längst nicht die erste Frau, die Shakespeares Dänenprinzen spielt. Als Regielegende Peter Zadek Angela Winkler ins Rennen schickte, erspielte die sich vor 21 Jahren einen Logenplatz in den Annalen der Theatergeschichte. Auch Sandra Hüller, die im Kino vor fünf Jahren in „Toni Erdmann“ Furore machte, hat gute Chancen, dort zu landen. Den Gertrud-Eysoldt-Ring hat sie dafür bereits bekommen.

Die Inszenierung des Bochumer Intendanten Johan Simons wurde im letzten Jahr von Kritik und Publikum heftig bejubelt. Mit dieser Produktion wurde das ins Internet verbannte aktuelle Berliner Theatertreffen eröffnet. Eine Fachjury lädt dazu die nach ihrer Ansicht besten Produktionen nach Berlin ein. Als die Corona-Krise noch nicht in Sicht war, gerieten das Theatertreffen und seine Leiterin Yvonne Büdenhölzer mit der eingeführten Frauenquote heftig in die Schlagzeilen. Unversehens wurde jetzt die Verlagerung des kompletten Theatertreffens ins Internet zum Label des aktuellen Jahrgangs. Mit all den Nachteilen des vorenthaltenen Live-Erlebnisses für die Zuschauer. Dafür mit dem Vorteil einer faktisch unbegrenzten Reichweite für alle am wichtigsten europäischen Theatertreffen Interessierten! In diesem Jahr musste also keiner nach Berlin fahren und sich um die begehrten Karten balgen.

Es passte freilich auch zu dieser „Spezialedition im virtuellen Raum“, bei der sechs der zehn eingeladenen Inszenierungen, die bis 9. Mai für jeweils 24 Stunden im Netz zu sehen waren, eine Diskussion zu „Sinn und Potential von Streaming“ an die Seite zu stellen.

Nun also im Netz und auf 3sat: „Hamlet“. Sandra Hüller ist das Kraftzentrum. Dezent, in sich versunken und ohne die anderen an die Wand zu spielen. Ihr Dänenprinz ist in seiner Zerbrechlichkeit dunkel, fragil und suchend, aber er strahlt von innen. Als Kind seiner Eltern, das schwer daran trägt, dass es auch ein Wechsel auf die Zukunft seines Landes sein soll. Wie ein Leitmotiv und als Person nicht ganz von dieser Welt ruft eine Totengräberin immer wieder „Er ist allein“ dazwischen. Anders als üblich ist Ophelia hier kein verhuschtes Opfer. Da setzt der Mann Simons einen deutlich feministischen Akzent. Er verschmilzt die Figur mit Hamlets Freund Horatio. Freund plus Geliebte ergibt fast so etwas wie einen Partner, respektive eine Partnerin auf Augenhöhe. Gina Haller spielt diese Ambivalenz mit Sexappeal lustvoll aus.

Zu Beginn gibt es eine Art Familienaufstellung aller Akteure – mit schneidenden Quietschgeräuschen im Hintergrund. Die enden erst, als Hamlet allein auf der leeren Spielfläche zurückbleibt. Die Zeit ist aus den Fugen.

Bei Johannes Schütz (Bühnenbild) schwebt nur ein weißer Mondballon über Helsingör. Der Hof ist eine weiße Spielfläche. Das genügt völlig. Diese reduzierte Raumästhetik kommt der vorliegenden Videoaufzeichnung (die nicht als Ersatz für ein reales Gastspiel gedacht war) ästhetisch entgegen.

Der Geist von Hamlets ermordetem Vater spricht (ja brüllt) aus Hüller selbst. Gertrud und Claudius sind Akteure und Publikum für Hamlet. Als Claudius lässt sich Stefan Hunstein beim Theaterstück zum Mitspielen verführen und verrät sich. Polonius kommt bei Bernd Rademacher erstaunlich heutig rüber. Auch sonst hat jede kleine Rolle den Raum, den sie braucht.

Die stark gekürzte Übersetzung von Jürgen Gosch ist vorsichtig modernisiert. Sie kappt nicht jede Verbindung zur klassischen Übersetzung und funktioniert blendend. Sie bietet genügend Ankerplätze des Wiedererkennbaren, die Vertrautheit erzeugen. Am Ende, wenn alle tot sind, erzählt die Totengräberin den Schluss.

Der Rest wäre Beifall – wenn das vorm Bildschirm nicht zu albern wäre.

Außer „Hamlet“ bot das virtuelle Theatertreffen noch:

  • „Anatomie eines Suizids“ von Alice Birch – Regie: Katie Mitchell – in einem Probenmitschnitt des Deutsches SchauSpielHauses Hamburg (deutschsprachige Erstaufführung 17. Oktober 2019);
  • „Die Kränkungen der Menschheit“, eine Produktion von Anta Helena Recke mit den Münchner Kammerspielen in Koproduktion mit HAU Hebbel am Ufer (Berlin), Kampnagel (Hamburg) und Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt/M.), (Uraufführung 26. September 2019);
  • „Süßer Vogel Jugend“ von Tennessee Williams in der Regie von Claudia Bauer, Schauspiel Leipzig, (Premiere 6. April 2019);
  • „Chinchilla Arschloch, waswas“, von Rimini Protokoll (Konzept, Text und Regie Helgard Haug), eine Produktion von Künstlerhaus Mousonturm, Schauspiel Frankfurt und Rimini Apparat in Koproduktion mit Westdeutscher Rundfunk und HAU Hebbel am Ufer, (Uraufführung 11. April 2019).
  • „The Vacuum Cleaner“ von Toshiki Okada in der Regie von Toshiki Okada an den Münchner Kammerspielen (Uraufführung 12. Dezember 2019).

„Hamlet“ ist in der 3sat-Mediathek bis 30.07.2020 verfügbar.