23. Jahrgang | Nummer 8 | 13. April 2020

Erlesenes – Höhere Mathematik,
Kommunistisches und George Orwell

von Wolfgang Brauer

Im Jahr 2000 listete das Clay Mathematics Institute (CMI) in Cambridge (Massachusetts) sieben mathematische Probleme auf, für deren Lösung es jeweils ein Preisgeld von einer Million US-Dollar aussetzte. Die Fachwelt bezeichnet sie als „Millenniumsprobleme“. Bislang wurde nur eines davon gelöst, die Poincaré-Vermutung vom russischen Mathematiker Grigori Jakowlewitsch Perelman. Perelman, eine einigermaßen exzentrische Persönlichkeit, lehnte das Preisgeld ab. Patrick Hofmann muss die Biografie des Russen fasziniert haben. Für Hofmann, der 2002 über Edmund Husserls Theorie der Beschreibung promovierte, stellten die „nebulösen, geistigen Abgründe“ der Millenniumsprobleme – auf die er über Perelman aufmerksam wurde – „eine Provokation und Herausforderung“ dar. So der Autor in einem vom Penguin Verlag veröffentlichten Interview. Hofmann nahm die Provokation auf, schrieb einen Roman und lässt seinen Helden Oliver Seuß auf das einzige Problem der Clay-Liste los, das schon im Jahre 1900 vom deutschen Mathematiker David Hilbert auf dessen Liste ungelöster mathematischer Probleme gesetzt wurde: die Riemannsche Vermutung. Deren Beweis könnte der Schlüssel zur Lösung des Geheimnisses der Primzahlen sein, sozusagen der „Weltformel“ der Zahlentheorie. Mit geradezu dramatischen Konsequenzen ließen sich hier Denkgerüste für die weitere Entwicklung von KI und Kosmologie entwickeln. Hofmann deutet ersteres nur an – und konzentriert sich stattdessen auf die innere Biografie seines Helden, der als ungewünschtes und ungeliebtes Kind in der ostdeutschen Provinz aufwächst und nur in der Mathematik inneren Halt findet. Die bewahrt ihn vor dem drohenden Absturz in das alkoholgetränkte Nirwana seiner nicht-mathematischen sozialen Umgebung. Hofmann zeichnet das Bild letzterer, es geht hauptsächlich um die Familie seines Helden, mit einer Präzision, die beim Lesen Schmerzen bereiten kann. Ja, so ist es. Das ist ganz großes Erzählen. Schwieriger wird es, als Ina, die begabte Physikerin, ins Spiel kommt, von der sich Oliver zunächst nur benutzt fühlt. Das ändert sich im Laufe der Handlung. Der Autor hat Mitleid mit seinem Helden. Scheinbar zufällig – wie so oft in der Wissenschaftgeschichte, aber eben nur scheinbar zufällig – lässt er Oliver Seuß in der Situation seiner tiefsten Niederlage „an einem Dienstag im Februar […] einen Nagel in den Himmel der Mathematik“ einschlagen, der halten sollte. Dann schlägt das Leben zu.

Für die Lektüre dieses Romanes muss man nicht die um die Riemannsche Vermutung errichteten Formelgerüste lesen können. Ein Minimum an erkenntnistheoretischem Interesse reicht aus. Man muss auch nicht das besondere Sächsisch der Leipziger Tieflandsbucht sprechen – sich ein wenig auf diese Sprache einlassen zu wollen reicht ebenso wenig wie ein Minimum an Touri-Englisch, um den Reiz des Istanbul-Kapitels, einer erzählerischen Glanzleistung Patrick Hofmanns, voll umfänglich genießen zu können.

Patrick Hofmann: Nagel im Himmel. Penguin Verlag, München 2020, 320 Seiten, 22,00 Euro.

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Die linke Ideengeschichte ist zumeist eine Geschichte von Abweichlern, Ketzern und Dissidenten. Zu diesen Denkern gehört auch der englische Schriftsteller George Orwell (1903-1950). Es hat den Anschein, als ob auch erklärte Gegner des Stalinismus ihm seine Dystopien „Die Farm der Tiere“ oder ganz schlimm „1984“ noch heute übel nehmen. Ein fataler Fehler. Dieser aufrechte englische Sozialist sollte in Zeiten der weltweiten Konjunktur von Überwachungs- und intellektuellen Gleichschaltungssystemen aufmerksamer gelesen werden. Bei dtv erschien jetzt sein auf Deutsch bislang unveröffentlicher Aufsatz „Über Nationalismus“ („Notes on Nationalism“), den er im Mai 1945 schrieb. Der Autor bezieht sich nicht nur auf politisch oder ethnisch begründete Nationalismen: „Der Nationalismus im erweiterten Sinne, wie ich ihn verwende, umfasst Bewegungen und Neigungen wie den Kommunismus, den politischen Katholizismus, den Zionismus, den Antisemitismus, den Trotzkismus und den Pazifismus.“ Ich sehe schon den Schaum vor manchen Mäulern … Wie kann man derart Unvergleichbares auf eine Stufe stellen! Man kann, wenn man die Orwellschen Prämissen ernst nimmt. Für ihn ist Nationalismus „untrennbar mit dem Streben nach Macht verbunden“, der Nationalist opfere seine Individualität dem einzigen Zwecke, „immer mehr Macht und immer mehr Prestige“ für die Nation oder eine andere Einheit, der er sich zugehörig fühle, aufzuhäufen. Das schließe notwendigerweise die erbitterte Bekämpfung aller anderen ein. Conditio sine qua non ist eine zutiefst selektive Wahrnehmung der Wirklichkeit, wenn nicht sogar die komplette Leugnung der Realitäten. Hier fällt nach Orwells Analyse den Intellektuellen, die er für Nationalismen als besonders anfällig betrachtet, eine entscheidende Rolle zu. Armin Nassehi bringt es in seinem Nachwort auf den Punkt, „der Nationalismus muss herbeigeschrieben werden“. Dem ist schlecht zu widersprechen, den Weg der Mordkommandos pflasterten immer Dichter und Professoren. Nassehi ist zudem der Meinung, Orwells Essay könne als aktueller Text gelesen werden, „weil er ein subtiles Verständnis der Unbedingtheiten kulturkämpferischer Auseinandersetzungen anbietet, das die derzeitige Erfahrung der Unversöhnlichkeit aufs Korn nehmen kann“. Genauso habe ich „Über Nationalismus“ gelesen. Dass Orwell ausgerechnet den Patriotismus als positiven Gegenpol darstellt, halte ich allerdings für weltfremden Unsinn.

Intellektuelle leiden an der kardinalen Untugend der Rechthaberei. Geht diese eine Allianz mit der Macht ein, entsteht am Ende immer eine Farm der Tiere, die der Große Bruder mehr oder weniger perfekt überwacht. Dieses kleine Büchlein kann helfen, Strategien zu finden, um zumindest zu verhindern, dass die eigenen Denkprozesse kontaminiert werden, wie George Orwell es als möglichen Ausweg aus dem links-intellektuellen Hauptdilemma vorschlägt.

George Orwell: Über Nationalismus. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Mit einem Nachwort von Armin Nassehi, dtv, München 2020, 64 Seiten, 8,00 Euro.

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Schwierigkeiten machte mir Klaus Dreessen mit seinem Buch „Völkerball“, das der Verlag als „historischen Roman“ einstuft. Ein Roman ist es mitnichten, auch wenn der Autor seine zwei Hauptfiguren, die westdeutsche Wirtschaftsfrau – die er den biografischen Umweg über die USA nehmen lässt – Marie Christine Bechstein und den ehemaligen NVA-Major Georg Baumann nach vielen Hindernissen und Zweifeln zusammenfinden lässt. Die beiden lernen sich während der Leipziger Messe kennen und erzählen einander ihre Geschichte. Eigentlich ist es Baumann, der erzählt. Dreessen lässt ihn über ellenlange Passagen die Geschichte der kommunistischen Bewegung anhand der Biografie von Vater Baumann referieren. Maries Rolle wird über weite Strecken auf die einer Stichwortgeberin reduziert. Das ruiniert die erzählerische Absicht, die sich zumindest unbewusst an Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ orientiert. Natürlich kriegt auch bei Dreessen – Vater Baumann wird Mitte der 1930er Jahre nach Moskau zur Kaderschulung geschickt und im Hotel „Lux“ untergebracht – Herbert Wehner sein Fett weg. Ärgerlich sind die vielen Schludereien, die dem Autor unterlaufen: Hitler habe sich aus den Erfahrungen des Kapp-Putsches von 1920 heraus entschlossen, nicht durch einen Putsch an die Macht zu gelangen. Honecker taucht plötzlich im „Lux“ auf. Die Annexionen der baltischen Republiken und Bessarabiens durch die Sowjetunion seien eine Art „Probelauf“ für Stalins Angriffspläne Richtung Westen gewesen.

Das ist schon abenteuerlich. Allerdings hat der Autor sich das verschrobene Geschichtsbild Bogdan Musiałs angeeignet („Kampfplatz Deutschland. Stalins Kriegspläne gegen den Westen“). So stolpert Georg Baumann fröhlich von Klischee zu Klischee beim Schwadronieren über das „rote faschistische Imperium“, um am Ende des Buches festzustellen, dass der Teufel Regie geführt haben mochte, beim „so zielsicher abgefeuerten Schuss in die Vergangenheit an den Ort des Verbrechens zu den damaligen Opfern“. Gemeint ist der Absturz der Maschine des polnischen Präsidenten Lech Kaczyński am 10. April 2010 bei Smolensk. Zu einer Schlüsselstelle des Buches gehört die Begegnung Maries mit dem hundertjährigen Mönch Benedikt. Benedikt: „Vielleicht sollten wir uns angewöhnen, nicht immer nur in Extremen zu denken.“ Dreessen praktiziert das Gegenteil. Schade, ich hatte mehr erwartet.

Klaus Dreessen: Völkerball, agenda Verlag, Münster 2020, 554 Seiten, 24,90 Euro; eBook 14,99 Euro.