23. Jahrgang | Nummer 6 | 16. März 2020

… und der Zukunft zugewandt

von Septentrionalis

Prognosen sind schwierig,
besonders wenn sie die Zukunft betreffen.

Karl Valentin
oder
Mark Twain
oder …

Kassandra hatte mit ihren Vorhersagen bekanntlich immer Recht, doch niemand glaubte ihr. Bei heutigen Auguren ist es meistens umgekehrt.

„Sind wir noch zu retten?“ betitelte Klaus Schweinsberg im Jahr 2010, also noch im frischen Erleben der Finanzkrise, sein neues Buch und gab im Untertitel auch gleich die Antwort: „Warum Staat, Markt und Gesellschaft auf einen Systemkollaps zusteuern“. Und er musste es wohl wissen, war der studierte Volkswirt doch zuvor nacheinander Chefredakteur des Wirtschaftsmagazins Impulse und Capital. Bis er sich 2009 als Honorarprofessor der Rheinischen Fachhochschule Köln offenbar auf das Bücherschreiben verlegte, darunter so Knaller wie „Acht Erfolgstugenden in Zeiten der Ungewissheit“.

Eines von Schweinsbergs schlagenden Argumenten – damals auf Seite 108 seines beängstigenden Rettungsbuches: „Der deutsche Staat – also Bund, Länder und Kommunen und Sozialversicherungen – steht […] mit rund 1,8 Billionen Euro in der Kreide. Bis zur Mitte des Jahrzehnts werden die Miesen trotz Sparpakets der schwarz-gelben Regierungskoalition auf zwei Billionen Euro steigen.“

Wem da noch nicht genug gruselte, dem gab Schweinsberg eine weitere Horrorzahl mit auf den Weg (in den Abgrund): „Beim Bund summiert sich der Zinsaufwand zum zweitgrößten Etat im Haushalt. Er zahlt 2010 für seine Schulden bereits knapp 40 Milliarden Euro. Der Betrag wird bis 2014 um 11 Milliarden steigen. Diese Mehrausgaben werden in der öffentlichen Debatte totgeschwiegen.“ Na ja, sie werden stets in der mittelfristigen Finanzplanung des Finanzministers öffentlich ausgewiesen, aber „totgeschwiegen“ klingt natürlich dramatischer.

Maßgeblicher aber: Zwei Billionen Verschuldung der Öffentlichen Hand sind noch heute nicht erreicht und vor allem ist statt erwarteter 51 Milliarden Schuldendienst 2014 die jährliche Zinszahlung dank anhaltend niedrigster Zinsquoten auf inzwischen knapp 13 Milliarden (Stand 2019) gefallen. Zumindest bisher ist der „Systemkollaps“ daher auch ausgeblieben. Man kann halt nicht immer Recht haben.

Natürlich sind Schweinsberg nicht die Zahlen als solche vorzuhalten. Schätzungen für die Zukunft sind halt mit Ungewissheiten behaftet. Ein Vorwurf ist ihm allerdings nicht zu ersparen: Aktuelle Trends interpolieren und dann daraus weitreichende Schlüsse wie „Systemkollaps“ ziehen, das macht man entweder aus Dummheit, gedanklicher Nachlässigkeit oder – Geschäftstüchtigkeit. Damit die eigenen Bücher sich besser verkaufen.

Apropos Geschäftstüchtigkeit. Darin sind auch andere Autoren meisterlich, etwa Marc Friedrich und Matthias Weik. Die beiden Experten tingeln mit ihrem Buch „Der größte Crash aller Zeiten“ durch die deutsche Katastrophenlandschaft. Für 1,94 Prozent Verwaltungsgebühr per anno plus einer potentiellen Erfolgsbeteiligung bieten diese Warner vor dem finanziellen Kollaps auch gleich Überlebenshilfe an – in Form des „Friedrich & Weik Wertefonds“. In dem bei Hansainvest angesiedelten Anlagevehikel – Werbeslogan: „Vermögensschutz für morgen“ – versammeln sich im für Branchenverhältnisse eher bescheidenen Umfang von 27 Millionen Euro Gold und Silber, aber auch Aktien. Das Versprechen „werterhaltend“ hat man bisher einhalten können. Seit Auflage Anfang 2017 hat der Fonds gar vier Prozent Wertsteigerung erfahren. Das ist allerdings nicht wirklich ein Geniestreich – angesichts gleichzeitiger 38 Prozent Steigerung des Aktienmarktes und 29 Prozent Plus für Gold.

Noch ein paar Details? Gut 40 Prozent haben die Fondsmanager nach letzten Zahlen in Gold (25 Prozent), Silber (gut fünf Prozent) und entsprechende Minenaktien (elf Prozent) gesteckt. 29 Prozent waren zur Jahresmitte 2019 in Bankguthaben geparkt, der Rest von einem knappen Drittel waren Allerweltaktien wie etwa Fiat Chrysler oder der Telefonanbieter Drillisch. Wieso man als Kunde für dieses Sammelsurium jährlich eineinhalb bis fast zwei Prozent Gebühren abdrücken soll, bleibt unerfindlich. Ein Exchange-Traded Fund (ETF) auf Gold und einer auf den Weltaktienindex hätten es da sicher billiger getan. Diese Idee ist offenbar auch der Stiftung Warentest gekommen, als sie das Wirken der beiden Crash-Päpste kürzlich unter die Lupe nahm und zu dem Fazit gelangte: „Die Investition in Sachwerte, dazu zählen auch Aktien, ist an sich eine gute Idee. Das geht aber eleganter und deutlich günstiger als mit dem Wertefonds.“

Fonds, die die eigenen Gedanken umzusetzen versuchen, sind auch für andere Krisenpropheten durchaus tückisches Terrain. Crash-Professor Max Otte verspricht für seinen „Max Otte Vermögensbildungsfonds AMI P“: „In der Regel ist der Fonds ausschließlich oder überwiegend in die renditestärkste, aber auch schwankungsanfälligste Renditeklasse – Aktien – investiert. Der Fonds verfolgt dabei einen wertorientierten Ansatz, indem er in Aktien investiert, deren fairer Wert deutlich über dem aktuellen Kurs liegt.“

Aufgelegt worden ist dieser Fonds am 1. Juli 2013, und mit bereits 500 Euro kann auch der kleine Angsthase bei Otte mit von der Partie sein. Es werden 1,91 Prozent jährliche Gebühren fällig. Immerhin hat es dieses Investmentangebot mit fast 58 Millionen schon auf das Doppelte der Auguren Friedrich und Weik gebracht. Und beim Branchenverband BVI lässt sich nachsehen, was der Herr Professor in den letzten fünf Jahren zuwege gebracht hat: insgesamt gut 25 Prozent Plus, 4,6 Prozent im Jahr. Klingt gar nicht übel für kurz bevor die (Finanz)Welt untergeht. Leider entzaubert ein Blick auf den DAX die professorale Expertise ein wenig, denn in der Zwischenzeit konnte der deutsche Leitindex gut 33 Prozent zulegen, von amerikanischen Aktien gar nicht zu reden.

„Definitiv, es geht mit uns bergab“, hat Otte anlässlich der Vorstellung seines jüngsten Buches „Weltsystem Crash“ erneut verkündet. Da werden sich seine Fondskunden wohl kaum auf bessere Erfolge freuen können.

Noch weiterer Gruselstoff gefällig? „Mit einer halben Million verkaufter Exemplare von ‚Der Crash kommt‘ gelang Max Otte eines der erfolgreichsten deutschen Wirtschaftsbücher überhaupt. 13 Jahre später erscheint der Nachfolger: ‚Weltsystemcrash‘. Die Risiken sind noch dramatischer geworden: Die weltweite Verschuldung ist auf dem höchsten Stand aller Zeiten. Der Niedergang der USA, der Aufstieg Chinas und die Ohnmacht Europas bedeuten fatale Konsequenzen für uns alle“, so wird das neue Werk bei Amazon beworben. Offenbar ist selbst dem editierenden Finanzbuchverlag die leise Ironie in diesem Text nicht aufgefallen: Der Mann mag ja – vielleicht auch durch Zufall – 2006 vor der eine Weile später eingetreten Finanzkrise gewarnt haben, aber nach dieser geht es seit einem Jahrzehnt wieder ganz komfortabel aufwärts …

Seit es Finanzgeschäfte gibt, also seit mindestens zwei Jahrtausenden, kommt es immer wieder zu spektakulären Einbrüchen. Wer ständig davor warnt, kann sich daher immer mal wieder als erfolgreicher Prophet preisen. Doch seine Prognosesicherheit ist in etwa so hoch, als würde er bei Sonnenaufgang die Furchtsamen auf die Tatsache aufmerksam machen, dass es garantiert bald wieder dunkel wird.

Crashprophetie ist ein Geschäftsmodell. Damit wird per Buch oder Vortrag mächtig Kasse gemacht. Wenn Otte allein eine halbe Million Exemplare seines „Der Crash kommt“ verkauft hat, dann sind da sicher eine Million Euro bei ihm hängengeblieben. Für ihn war der Crash also selbst kein Risiko.

Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt im Finanzsektor und darüber hinaus zweifellos Risiken und ja, die können sich auch immer wieder in einer Krise entladen. Aber vielleicht doch nicht schon morgen oder in einem Jahr und dann in der Regel an einer Stelle, die viele Propheten gerade nicht auf dem Schirm haben. Der vom Philosophen Oswald Spengler 1918 prophezeite „Untergang des Abendlandes“ ist allerdings bisher nicht eingetreten.
Andererseits: Als Kassandra vor dem Danaer-Geschenk, dem Trojanischen Pferd, warnte – vergeblich –, hatte das katastrophale Folgen …