von Wolfgang Brauer
Andrej Platonow gehört zu den lange Verleugneten der russisch-sowjetischen Literatur. Der 1899 geborene Elektrotechniker und Meliorator veröffentlicht 1927 seine ersten Bücher, die gleich einem Paukenschlag daherkommende Kurzgeschichtensammlung „Die Epiphaner Schleusen“ und die satirische Erzählung „Die Stadt Gradow“, mit der er die sowjetische Bürokratie attackiert. Die hatte ihn gerade erst aus dem Berufsleben herausgekantet. Platonow versuchte in den Jahren zuvor erfolgreich zusammen mit den betroffenen Bauern, die Ursachen der Dürrekatastrophen im Schwarzerdegebiet um Woronesh zu bekämpfen. Er erlag der Illusion, dies, legitimiert durch eine demokratische Wahl, auf einem Spitzenposten der sowjetischen Gewerkschaften unionsweit weiterführen zu können. Der Traum dauert nur 14 Tage lang. Dann wird er gefeuert. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sein Glück – und die Existenzsicherung seiner Familie – als freier Schriftsteller zu versuchen.
Aber auch das sollte ihm nur für kurze Zeit gelingen. 1931 veröffentlicht er in der Zeitschrift Krasnaja now die satirische Erzählung „Zum Nutzen“, mit der er Kritik an der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft übt. Er ist nicht in der Lage, dieses Verbrechen an der sowjetischen Bauernschaft auf eine so kriecherische Weise schönzureden, wie es Michail Scholochow mit seinem durchaus sprachgewaltigen Epos „Neuland unterm Pflug“ fertigbrachte. Stalin jedenfalls schäumt, übt sich mit Randnotizen wie „Schuft“ und „Abschaum“ auf einem Exemplar der Krasnaja now als Literaturkritiker. Er bezeichnet die Redakteure als „Stümperkommunisten“ und empfiehlt der Redaktion, „Autor und Stümper […] so zu bestrafen, dass ihnen die Strafe ‘Zum Nutzen’ gereicht.“ Das war de facto das zweite Berufsverbot. In seiner Verzweiflung wendet sich Platonow zwei Jahre später mit drei Briefen an den Einzigen, der zu helfen in der Lage gewesen wäre: Maxim Gorki. Er geht sogar so weit, Gorki zu bitten, dass man ihm die Möglichkeit geben solle, „den Bau des Weißmeerkanals oder des Moskwa-Wolga-Kanals zu studieren und darüber ein Buch zu schreiben“. Platonow weiß, dass diese Bauten „in pädagogischer Hinsicht“, wie er schreibt, angelegt, also Bestandteil des GULAG-Systems sind.
Die Briefe an Gorki, die dieser nie beantwortete, sind im Deutschen jetzt erstmals abgedruckt im Sammelband „Dshan oder Die erste sozialistische Tragödie“, den Michael Leetz – von dem auch die vorzüglichen Übersetzungen stammen – jetzt vorgelegt hat. Dieser Band ist eine Glanzleistung. Platonow selbst ist interessierten deutschen Lesern kein Unbekannter. Bereits 1969 veröffentlichte der Ostberliner Verlag Kultur und Fortschritt eine zweibändige Prosaauswahl, 1973 erschien bei Luchterhand der Roman „Tschewengur“, den Platonow selbst zu Lebzeiten nie veröffentlichen konnte. Platonows Bücher erscheinen fortan in beiden deutschen Staaten bis in die 1990er Jahre hinein immer wieder. Allerdings mit einem Makel: Sie basieren auf den entsprechenden Veröffentlichungen sowjetischer Verlage. Die wiederum unterzogen die Schriften des Autors, der sich nicht mehr wehren konnte, einer dem jeweiligen „Zeitgeist“ geschuldeten Bearbeitung – bis hin zu solchen „Entstalinisierungsmaßnahmen“, die den Namen Stalin in stalinkritischen Schriften durch Lenin ersetzten.
Leetz greift bei seiner Neuübersetzung des titelgebenden Romans „Dshan“ (der 1964 in Kasachstan erstmals postum erscheinen konnte) auf die 1999 in Moskau von Natalja Kornijenko besorgte Ausgabe zurück. Kornijenko gelang es, den ursprünglichen Text wiederherzustellen. „Dshan“ – 1935 geschrieben – ist das Ergebnis von zwei Studienreisen Platonows nach Turkmenien, die nach Auffassung von Leetz nur möglich waren, weil sich Maxim Gorki eben doch für den Verfemten eingesetzt habe.
Der Roman erzählt vom Schicksal des „nichtrussischen Mannes“ Nasar Tschagatajew, Absolvent des Moskauer Ökonomischen Institutes, der von der Partei in die Sary-Kamysch-Senke am Rande der Wüste Karakum geschickt wird. Er soll das verlorengegangene Volk Dshan, dem er selbst entstammt, finden und ihm den Sozialismus bringen. Denn, so der Sekretär der Partei: „In der Hölle ist dein Volk schon gewesen, nun soll es im Paradies leben und, wir helfen ihm mit all unserer Kraft …“ Tschagatajew gehorcht, aber die Mission gerät beinahe zum totalen Desaster. Er findet zwar sein fast schon ausgestorbenes Volk. Es erweist sich aber als kaum ansprechbar. Zerlumpt und halb verhungert haben die Menschen nur noch ein einziges Interesse: irgendwelche kaubaren Wurzeln zu finden und sich, wenn es gar nicht mehr weiter geht, in irgendeiner Sanddüne zum Sterben zu verkriechen. Tschagatajew fühlt, „dass sein Volk den Kommunismus nicht braucht“. Jedenfalls nicht den „von oben“ dargebrachten. Nur das Mädchen Aidym verkörpert den Funken Hoffnung, der Tschagatajew nicht aufgeben lässt. Mit ihrer Hilfe und dem Glücksumstand, dass es ihm gelingt, vier riesige, vom Himmel stürzende Vögel zu töten und mit diesen sein Volk vor dem Hungertod zu bewahren – der Roman lebt von stark mythologisch geprägten Motiven –, kann er seinen Auftrag schließlich ausführen. Nur, im Moment der höchsten Erfüllung – er hat die Dshan aus der Wüste herausgeführt, die Hungernden gesättigt, feste Häuser in der unwirtlichen Steppe gebaut – „gingen alle einzeln, in großer Entfernung voneinander“. Nasar Tschagatajew begreift in diesem Moment, „die Menschen sehen selbst am klarsten, was das Beste für sie ist. Genug, dass er ihnen half lebendig zu bleiben, und das Glück erlangen mögen sie hinter dem Horizont …“
Platonow formuliert hier eine Radikalabsage an jegliches Avantgardedenken kommunistischer Prägung. Letztendlich findet das Volk Dshan wieder zusammen, aber freiwillig, von sich aus. Tschagatajew hatte ihm, ohne sich dessen anfangs bewusst zu sein, Wichtigeres als nur das Essen verschafft – die Kraft, seine eigene Seele wiederzufinden. Denn Dshan „heißt Seele oder liebes Leben.“ Und wenn das Leben des Menschen „aber andere Menschen besitzen, der Mensch also unfrei ist, dann ist er nicht nur nicht imstande, seine Kräfte für ein edles Ziel einzusetzen, sondern er existiert noch nicht einmal als Persönlichkeit: Es existieren jene, die den Unfreien besitzen.“ Das schreibt Platonow im Vorwort der Erzählung über die Kurdin Karages (vermutlich 1936).
Jene, die den Menschen ihre Freiheit nehmen, können die orientalischen Beis sein oder auch die Chefs der „neuen Clans“ der Partei, von denen einer die Absicht hat, das Volk Dshan über die Grenze zu führen, um es auf den Sklavenmärkten zu verkaufen. Das kann auch Väterchen Stalin sein …
Gegen dessen Vorstellung, ingenieurtechnisch die Seelen der Menschen umzubauen („die Schriftsteller sind die Ingenieure der menschlichen Seele“), wendet sich Platonow gleich in mehreren Texten des Sammelbandes. Mit dem Essay „Die Gestalt des zukünftigen Menschen“ (1936–1938) schließt der Band ab: „Der zukünftige Mensch wächst und erstarkt selbstständig, infolge des historischen Fortschritts und des revolutionären Kampfes“, meint Andrej Platonow. Mit historischem Fortschritt meint er nicht den technischen Fortschritt. Im Gegenteil, er warnt davor, die Erde mit den inzwischen nie dagewesenen technischen Mitteln weiter auszuplündern. „Die erste sozialistische Tragödie“ liegt für ihn in ebendieser Überschätzung der Möglichkeiten der sozialistischen Gesellschaft: „die Natur ist so beschaffen, dass sie einen Sieg über sich nicht zulässt“. – „Wir aber dringen ins Innere der Welt ein, und als Antwort darauf schlägt sie mit gleicher Kraft zurück.“
Andrej Platonow erlebt in der Karakum den Anfang von Entwicklungen, die beispielsweise zur Vernichtung des Aralsees und zur Zerstörung selbst der einstmals voller Leben steckenden Wüste führten. Er warnt vor der Selbstüberhebung des Menschen. Er weiß, dass der von der Industriegesellschaft aus Gier in Gang gesetzten Selbstvernichtung nur Einhalt geboten werden kann durch das gemeinsame selbstbestimmte Handeln aller. Davon sind wir immer noch meilenweit entfernt. Auch die derzeit von Leuchtgestalten unterschiedlicher Art angeführten Ökologiebewegungen sind nicht sehr viel weiter im Denkansatz als Tschagatajew zu Beginn seiner Reise ins Land der Dshan.
Stalin und seine Zensoren hatten die Gefahren, die von Platonows Schreiben ausgingen, sehr wohl erkannt. Nach dem Krieg durfte er bis zum Ende seines Lebens 1951 nur noch Volksmärchen sammeln und bearbeiten. Der bei Quintus erschienene Sammelband ist ein atemberaubendes Stück Literatur.
Andrej Platonow: Dshan oder Die erste sozialistische Tragödie. Prosa – Essays – Briefe. Herausgegeben und übersetzt von Michael Leetz, Quintus, Berlin 2019, 376 Seiten, 25,00 Euro.