22. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2019

Die Macht des Schicksals – menschengemacht

von Wolfgang Brauer

Das Werk, obgleich eine der kompositorisch wuchtigsten Opern Guiseppe Verdis, gehört wohl auch zu seinen merkwürdigsten: „La forza del destino“ („Die Macht des Schicksals“), uraufgeführt 1862 in St. Petersburg und gleichsam zum zweiten Male in einer bearbeiteten Fassung 1869 in Mailand. Zwischen beiden Daten liegt der für die Italiener unglücklich verlaufene Krieg gegen Österreich um Venetien – das dank des preußischen Sieges bei Königgrätz dann doch an das Königreich Italien fiel.
Der Krieg ist das große Thema dieser Oper, obwohl es vom Sujet her wie so oft bei Verdis Stoffen um Liebe, gekränkte Ehre und die dann zwangsläufig erfolgende Rache geht. Die ist hier aber überhaupt nicht schicksalhaft – lediglich die Initialzündung zum blutigen Reigen am Anfang des 1. Aktes gehört in das Nähkästchen der unglaubwürdigen Zufälle, von denen die italienische Oper scheinbar lebt: Don Alvaro, der Liebhaber der Donna Leonora, hält sich mit gezogenem Revolver deren Vater, den wütenden Marchese von Calavatra, vom Leibe. Der will nicht Schwiegervater eines Mestizen sein. Auch wenn der hundertmal ein Inka-Prinz ist und von der Inbesitznahme des Thrones der Söhne der Sonne träumt. Calavatra treibt blanker Rassismus an. Alvaro wirft aber die Waffe weg, die knallt auf den Boden, und schlecht gesichert löst sich ein Schuss. Calavatra wird vom Schicksal niedergestreckt. Der Rest – und das ist die ganze Oper – ist eine finstere und verwickelte Rachegeschichte. Leonoras Bruder, Don Carlo di Vargas, exekutiert seine Vendetta mit bildlich gesprochen blutunterlaufenen Augen, fernab jeglicher Vernunft.
Guiseppe Verdi und seine Librettisten Francesco Piave und (für die zweite Fassung) Antonio Ghislanzoni machten aus einer Vorlage des spanischen romantischen Dramatikers Ángel de Saavedra ein packendes Sittenbild der italienischen Gesellschaft des Risorgimento. Neben der blutrünstigen „Familien-Saga“ sind es vor allem die Volksmassen (großartige Chorszenen!) und der in sich zerrissene Klerus, die die Szene bestimmen. Erstere lassen sich erst zum Kriege aufpeitschen (von einer Frau übrigens, der Zigeunerin Preziosilla), um dann dessen von ihnen selbst angerichtete Verheerungen zu bejammern – Letzterer pendelt zwischen den Antagonismen von religiöser Sendung, Fanatismus, Machtgier und sexuellen Obsessionen in Permanenz hin und her. Und inmitten all des Chaos eine mit der höchstmöglichen verdischen Sensibilität gezeichnete Frauenfigur, eben die erwähnte Donna Leonora. Leonora sucht vor der Rache des Bruders Zuflucht in einem Kloster, wird von den Mönchen de facto als Mysterium missbraucht – und stirbt schließlich doch noch durch die Klinge des sterbenden Bruders.
Am 8. September kam das Werk auf der dafür wie geschaffenen Bühne der Deutschen Oper Berlin zur Aufführung. Um es gleich zu sagen: Das Orchester unter Leitung von Jordi Bernàcer machte das, was seine Aufgabe ist. Es sorgte für eine Begleitung der Sänger, die diese nicht zerquetschte. Im Haus an der Bismarckstraße war schon anderes zu erleben. Dafür gerieten die Ouvertüre und die Zwischenspiele ein wenig zu brav. Eine, nein drei Sternstunden hatte der Chor (Leitung Jeremy Bines). Auch das Bühnenbild (Aleksandar Denic) passte einfach.
Damit sind wir beim eigentlichen Streit- und Reizpunkt dieser Inszenierung: Regie führte Frank Castorf, der wohl bedeutendste Schauspielregisseur, der die Berliner Theaterlandschaft nach 1990 bis zu seinem für die Berliner Kulturpolitik beschämenden Abgang als Volksbühnenintendant 2017 nachhaltig prägte. Castorfs Arbeiten kann man mögen, man muss es nicht. Ignorieren darf man sie nicht, auch nicht seine Arbeiten für die Oper. In den hauptstädtischen Häusern soll gelegentlich auch Pfusch aus den Händen berühmter Leute zu sehen sein … Bei Frank Castorf ist das eher nicht der Fall. Auch diese Verdi-Oper inszeniert er stringent. Die Handlung siedelt der Regisseur im von den amerikanischen Truppen eroberten (befreiten?) Neapel des Jahres 1943 an. Warum? Ihn interessieren die heute möglichen Antworten unserer Gesellschaft „auf totalitäre Strukturen“, wie er im Gespräch mit dem Tagesspiegel erklärte: „Wie geht unsere infantilisierte Gesellschaft damit um?“ Wie gehen wir mit dem offenbar nicht aus der Welt zu schaffenden Krieg um?
Eine Antwort erhielt er am Premierenabend von einem Teil des Publikums. Es versuchte, einen Dialog aus Curzio Malapartes Roman „Die Haut“, den Castorf dem 3. Akt zufügt, niederzubrüllen. „Wir wollen unseren Verdi hören!“, war da zu hören und weniger Stubenreines auch. Hier krachte tatsächlich der Rosa-Luxemburg-Platz auf den Kurfürstendamm. Nebenbei gesagt: Weder der Eine noch der Andere überzeugten … Im Publikum war wenig Bereitschaft zu spüren, sich auf die sowohl von Verdi im 19. als auch von seinem Regisseur im 21. Jahrhundert aufgeworfenen Fragen einzulassen. Ein böses Indiz dafür, dass sie uns wohl erhalten bleiben … Die Macht des Schicksals ist immer menschengemacht.
Manche Kollegen schrieben in den Tagen danach lustvoll von einem Theaterskandal. Nun ja, ein Skandälchen war es. Mehr nicht. Dazu verhielten sich Frank Castorfs Provokationen vergleichsweise zu sittsam. Ronni Maciel im paillettenbesetzten String als „Indio“ erzeugte eher mitleidig-betretenes Schweigen. Dramaturgisch ist seine Figur überflüssig. Natürlich spielten Live-Aufnahmen mit der Handkamera auf Videoleinwänden eine Rolle. Als Zuschauer muss man sich da schon entscheiden: Kino gucken oder sich auf die Oper einlassen. Beides zusammen geht nicht. Ich habe keine Ahnung, warum Castorf das nicht begreifen will. Dass die Oper ihre eigenen Gesetze hat, weiß er.
So gelang es den Solisten nicht immer, auch physisch zum Publikum durchzudringen. Markus Brück (Don Carlo) schaffte das auf eine beeindruckende Weise, er kennt die Bühne und ihre Tücken und Möglichkeiten genauestens. Der Tenor Russel Thomas (Don Alvaro) hatte es da schon schwerer, sich durchzusetzen. Die uruguayische Sopranistin Maria José Siri hat ihre besten Momente im 4. Akt. Ihr Klagelied der Leonora ist atemberaubend. Der heftige Schlussapplaus war berechtigt.
Die ebenso heftigen Buhs eher nicht. Hier stieß wahrlich die neue Berliner Mitte auf das alte Charlottenburg. Frank Castorf nahm es gelassen. Er ist Heftigeres gewöhnt. Meine Empfehlung: Lassen Sie sich diese Inszenierung nicht entgehen. Viva Verdi und Respekt Frank Castorf!

Wieder am 18.9., 21.9., 24.9. und 28.9.2019 sowie am 19.6., 20.6. und 26.6.2020.