22. Jahrgang | Nummer 2 | 21. Januar 2019

Die „Thüringer Anthologie“ – Eine poetische Landeskunde

von Ulrich Kaufmann

Zwischen 2014 und 2017 hat die Tageszeitung Thüringer Allgemeine jeden Samstag, Woche für Woche, ein Gedicht mit Thüringen-Bezug abgedruckt. Es waren152 lyrische Texte, die von 100 „Rezensenten“ auf engstem Raum kommentiert wurden. Dass dies Dichter und Literaturwissenschaftler taten, ist kaum verwunderlich. Aber dass ein Bischof, ein Oberbürgermeister, ein Theaterintendant, der Theologe Friedrich Schorlemmer, die frühere Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht und der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Roland Jahn sich zu lyrischen Texten äußerten, ist so alltäglich nicht
Es ist hervorzuheben, dass es eine regionale Zeitung war, die sich eines solchen Unterfangens annahm. Die FAZ hat als großes deutsches Blatt – zu Zeiten des „Literaturpapstes“ Marcel Reich-Ranicki – die „Frankfurter Anthologie“ ins Leben gerufen, die in etlichen Bänden dokumentiert ist. Dieser Großversuch hat gewiss für die „Thüringer Anthologie“ Pate gestanden. Die Herausgeber haben zunächst nicht gewusst, dass dieses Projekt in ein Buch münden könnte.
Kurzum, es liegt ein veritabler Band mit 390 Seiten vor, der deutsche Gedichte vom Hochmittelalter bis zu Gegenwart präsentiert. Allein der Abdruck der lyrischen Texte wäre ein verdienstvoller Beitrag zur poetischen Landeskunde Thüringens gewesen.
Es ist bekannt, dass nur wenige Menschen Lyrik lesen. Und so baten die Herausgeber Jens Kirsten und Christoph-Schmitz-Scholemann die Kommentatoren, als Brückenbauer zu fungieren. Dahinter stand die Idee, zunächst den Zeitungslesern und nunmehr Lehrern, Schülern und anderen potentiellen Lesern mögliche und freudvolle Zugänge zu den Gedichten zu schaffen.
Die Anthologie bietet eine breite Palette lyrischer Möglichkeiten an: Minnelieder, politische Gedichte, Landschaftsgedichte, philosophische Gedichte, erotische und frivole Lyrik, Oster- und Weihnachtsgedichte, das Trinker-Gedicht eines anonymen russischen Studenten (1858) und manches mehr.
Ein Beispiel kann für das gesamte Anliegen des Buches stehen: Mit acht kommentierenden Texten geht der vierundachtzigjährige Wulf Kirsten, Nestor der Thüringer Literatur, voran. Kirsten, ein Landschafter, Poet und Essayist von nationalem Rang, kann aus dem Vollen schöpfen, da er bereits zwei Thüringen-Anthologien vorzuweisen hat. Auch ein Lyrikkenner wird aber nicht alle Dichter kennen, die der Weimarer Poet auswählte: Ingeborg Stein, Reinhard Preuß, August Thieme, Stephan August Winkelmann, Heinz Winfried Sabais, Georg Wilhelm Schmidt von Lübeck, Walter Bähr sowie Karl Schnog. Kirsten, von dem in der Anthologie auch zwei eigene Gedichte vorgestellt werden, hat als Lyriker und belesener Lektor den doppelten Blick. Mit wenigen Strichen lässt er ein Poeten-Porträt entstehen, das Zugänge zum jeweiligen Gedicht anbietet.
Ein Widmungsgedicht im Band („Eine Fahrt nach Weimar“) erhielt Wulf Kirsten von dem südkoreanischen Dichter Kim Kwang-kyu zum 80. Geburtstag geschenkt.
Durch geschmackvoll eingefügte Schwarz-Weiß-Fotos mit Thüringer Motiven wird die Publikation bereichert. Hingegen fiel das Cover etwas fade aus. Das Personenregister wäre noch handhabbarer geworden, wenn man vermerkt hätte, auf welcher Seite die Texte der Beiträger jeweils zu finden sind. Dies gilt umso mehr, als sich das (schön gesetzte) Inhaltsverzeichnis über neun (!) Seiten erstreckt und die Gedichte nicht chronologisch angeordnet wurden.
Das hier vorgestellte Projekt verdient – mit oder ohne Tageszeitung – einen zweiten Band!

Jens Kirsten / Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie – Eine poetische Reise, Weimarer Verlagsgesellschaft in der Verlagsgruppe Römerweg GmbH, Weimar 2018, 390 Seiten, 18,00 Euro.