21. Jahrgang | Nummer 15 | 16. Juli 2018

Flüchtlinge – heute und früher

von Wolfgang Klein

Vom Februar 1933 bis zum August 1939 hat die in Toulouse erscheinende Zeitung La Dépêche, die den Radikalsozialisten, einer häufig an der Regierung beteiligten linksbürgerlichen Partei, nahestand, Flüchtlinge aus Deutschland regelmäßig auf ihrer Titelseite zu Wort kommen lassen. Eine Auswahl dieser Artikel, vor allem von Heinrich Mann und Georg Bernhard, die 1983 zum ersten Mal erschien, wird jetzt – im Rahmen Deutsch-französischer Wochen, die im September in Südfrankreich stattfinden werden – in französischer und deutscher Sprache erneut veröffentlicht. Die folgenden Überlegungen bilden das Vorwort zu dieser Sammlung.

Nach der Nacht vom 4. zum 5. September 2015 haben die deutsche Kanzlerin und ihr damaliger österreichischer Kollege für kurze Zeit einer großen Zahl von Menschen das Wahrnehmen eines Rechts ermöglicht, das die Bürger der von ihnen regierten Länder und 26 weiterer europäischer Staaten seit längerem, zum Teil bereits zwanzig Jahre lang, als Selbstverständlichkeit betrachteten: Staatsgrenzen unkontrolliert zu überqueren, um den Ort zu erreichen, an dem sie sich aufhalten wollten. Die Deutsche mag sich bei dieser Entscheidung daran erinnert haben, dass der Grenzoffizier der DDR, der am 9. November 1989 in Berlin als erster ebenso gehandelt hatte, inzwischen als Lichtgestalt der deutschen Geschichte gefeiert wurde. Als sie wenige Tage später erstmals auf Kritik und auch bereits auf Wut und Hass wegen ihrer Entscheidung traf, sagte sie, wenn man sich dafür entschuldigen müsse, zu Menschen in Not freundlich zu sein, dann sei das nicht ihr Land.
Die Menschen, denen menschlich zu begegnen sie für geboten hielt, kamen allerdings aus ferneren Teilen der Welt und waren anders. Keine drei Jahre nach jenem Mauerfall, um den sie sich verdient gemacht hat, ist ihre damalige Politik Vergangenheit und also das Land, das sie noch regiert, nicht mehr ihres. War es je so, wie sie es damals beschwor? Als das geprüft wurde, hat sich jedenfalls gezeigt: Eine deutliche Mehrheit der Deutschen hielt Gefühle der eigenen Bedrohung, die sie entwickelten, bald für entschieden wichtiger als die Not der Fremden, von der sie nichts wissen wollten. Die Gesichter sind immer häufiger verzerrt, die Gesten wegwerfend: Schmarotzer und Kriminelle brauchen wir nicht, sie sollen verschwinden und nicht noch mehr werden. Gepflegtere Konservative reden von den Interessen Deutschlands und Europas und von nichts Anderem. Aus beidem folgt die Forderung, gegen ein Wort eines früheren Präsidenten der USA: Mrs. Merkel, close this gate.
Wie die Kanzlerin den Flüchtenden damals begegnete, entsprang einer Situation, nicht einer Reflexion. Was die getroffene große Entscheidung an Verständnis für die Anderen wie vor allem an Veränderung der politischen und der ökonomischen Regeln, Beziehungen und Rangordnungen zwischen denen, die da waren, und denen, die kamen, ihren Gesellschaften und ihren Staaten verlangte, war damals nicht bedacht. Und es wurde seitdem durch die Regierenden nicht aufgeklärt, geschweige denn in ihrem Handeln berücksichtigt – weder für sich noch für ihre Bürger, auch nicht für ihre Verbündeten und Partner. Stattdessen hielten sie – in der Tradition Auguste Comtes und anderer Begründer der nachrevolutionären Welt der Bourgeoisie nach 1830 – die Ordnung, da sie in die Krise geraten war, wieder für wichtiger als die Freiheit. Gedacht und gestritten wurde nun vor allem über die Modalitäten der Schließung, daneben notgedrungen auch über praktische Fragen der Betreuung und deren Kosten. Und so kam man auf eine Lösung, die in der Geschichte nicht neu ist: innerhalb und außerhalb der Europäischen Union „kontrollierte Zentren“ (natürlich heißen sie nicht Lager) einzurichten, in denen die Flüchtlinge gesammelt werden, bevor über ihr Schicksal entschieden wird. Dass es Menschen sind, die haben flüchten müssen, warum sie es getan haben und was in der (politischen wie ökonomischen) Weltordnung zu ändern wäre, damit sie leben können, wo sie geboren wurden, scheint nicht mehr wesentlich.
Am 20. April 1933 ordnete der französische Außenminister an, dass Flüchtlinge aus Deutschland die Grenzen seines Landes ohne Visa überqueren durften und ohne weitere Nachprüfung, nur aufgrund ihrer eigenen Angaben, Passierscheine bis zu dem Ort erhalten sollten, an den sie sich begeben wollten. Dort waren die Präfekten verantwortlich für ihre Erfassung und das Beschaffen von Arbeit. Nur eine politische Betätigung war den Ankömmlingen verboten (woraus auch folgte, dass sie sich später über die französische Innenpolitik in Presseartikeln nicht äußern durften). Wenige Tage zuvor hatte der damalige Innenminister im Parlament erklärt: „Einmal mehr wird es unserer Nation eine Ehre sein, den hochherzigen Traditionen der Gastfreundschaft treu zu bleiben, deren sie sich immer gerühmt hat.“ Es kamen wesentlich weniger Menschen als 2015: Man schätzt die Zahl der bis Ende 1935 aus Deutschland nach Frankreich Geflohenen auf etwa 35 000. Und man könnte denken, dass das Problem des Andersseins sich zwischen zwei Nachbarn in Europa weit weniger scharf stellte als achtzig Jahre später zwischen Europäern und Migranten aus anderen Kulturen. Aber Deutschland und Frankreich hatten einander keine fünfzehn Jahre zuvor unter Einsatz all ihrer Kräfte bekriegt, und eine Wirtschaftskrise bis dahin ungekannten Ausmaßes bestimmte seit kurzem ihr Leben. Die rechtsextreme Presse beschwor eine „jüdisch-freimaurerische“ Invasion; gepflegtere konservative Blätter sprachen von einer „Gefahr“, weil „Emigranten unsere Kreuzungen mit fremdländischen Streitereien zuschütten, die uns nichts angehen“, und riefen dazu auf, „die gewöhnlichste und wertvollste Ordnung, die es gibt: die Sicherheit aller auf der Straße“, zu wahren. Das wirkte. Bereits am 18. Juli 1933 ordnete derselbe Innenminister an, dass „Israeliten“ aus Deutschland nur mit einem gültigen deutschen Pass einreisen durften. Im Oktober wurde das im April geöffnete Tor wieder geschlossen: Visa waren erneut gefordert und sollten nur nach genauer Prüfung ausgestellt werden, und die Grenzpolizei war zu erhöhter „Wachsamkeit“ aufgefordert. Die Zahl der Ausweisungen stieg. Auch eine Arbeitserlaubnis wurde nur noch sehr eingeschränkt erteilt. Zudem sollte der Völkerbund eine „gerechte Verteilung dieser Flüchtlinge zwischen den Ländern, die sich für ihre Aufnahme eignen,“ festlegen und dafür sorgen, dass auch die Kosten gleichmäßig getragen wurden. Nach Frankreich kamen durch das Hitlerregime Bedrohte jetzt nur noch, wenn das Visum sie vor dem Terror erreichte oder wenn sie die Grenze illegal überquerten. Zwar regelte die Volksfrontregierung vom Oktober 1936 an, dass sich die Exilierten in ganz Frankreich zumindest frei bewegen konnten und Ausweise erhielten – die Tendenz zur Abgrenzung kehrte das aber nicht um. Im November 1938 wurde beschlossen, „Spezialzentren“ (auch sie nannte man offiziell nicht Lager) für „unerwünschte“ Ausländer einzurichten. In ihnen wurden zunächst Menschen interniert, die nach dem Sieg Francos aus Spanien flüchteten, dann alle Deutschen, von denen nach dem Beginn des Weltkriegs eine Gefahr ausgehen sollte, schließlich Juden, bevor sie deportiert wurden. Fremdenfeindliche Reflexe und Mechanismen, die die überkommene Ordnung sichern sollten, indem gegen eine vermutete Unterwanderung eine Festung gebaut wurde, hatten funktioniert – bemerkenswert ähnlich zu den heute wirkenden.
Man muss sich die Parallelen zwischen der damaligen und der heutigen Situation vergegenwärtigen, um den Wert und den Mut dessen zu würdigen, was La Dépêche unter der Leitung von Maurice Sarraut vom 13. Februar 1933 an leistete, an dem sie den ersten Artikel von Georg Bernhard brachte: Keine Zeitung heute und keine andere damals hat über mehr als sechs Jahre fast ein Drittel ihrer ersten Seite zwei- bis dreimal im Monat zur Verfügung gestellt, damit Sprecher der Flüchtlinge (auch Italiener wie Carlo Sforza und Guglielmo Ferrero übrigens) ihr Gastland über ihre Erfahrungen und ihre Erkenntnisse aufklären konnten. Georg Bernhard und Heinrich Mann taten das über die gesamte Zeit regelmäßig, Alfred Kerr in einem bestimmten Abschnitt seines Lebens wiederholt. Darüber hinaus holte die Redaktion mehrfach einzelne Beiträge in ihr Blatt, die ihr wichtig waren – von Theodor Lessing, Albert Einstein, Thomas Mann und Theodor Wolff. Hinzu kamen zahlreiche Artikel französischer Autoren über die Entwicklungen in Deutschland, auf die hier nur pauschal verwiesen werden kann. Bis in den August 1939 bestand La Dépêche damit auf den Gemeinsamkeiten zwischen den Franzosen und denen, die nach Frankreich hatten flüchten müssen, und trug so dazu bei, das Wichtigste zu begreifen: dass die in ihr Land Gekommenen Menschen waren. Viele Menschen und Organisationen, die sie in ihrem täglichen Leben unterstützten, konnten aus dieser Zeitung in authentischen Zeugnissen erfahren, was diese Fremden wollten und was diese auf den ersten Blick Anderen mit ihnen verband.
Das in ihren Artikeln, besonders durch Heinrich Mann, immer wieder ausgesprochene oder angedeutete, an die Grundlagen der bestehenden Ordnung rührende Anliegen allerdings, die Appeasement-Politik gegenüber dem Regime in Deutschland zu beenden und die deutsche Opposition als Vertreterin des Landes anzuerkennen, fand bei keiner französischen Regierung Gehör. Stattdessen schloss Frankreich Wirtschaftsabkommen mit Deutschland, ließ die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Remilitarisierung des Rheinlandes zu, verweigerte durch „Nichteinmischung“ der Spanischen Republik die Unterstützung und ließ sich auf das Münchner Abkommen ein. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs musste auch La Dépêche ihrem Mitarbeiter Heinrich Mann kündigen, und nur sein Alter und die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft bewahrten ihn davor, wie Georg Bernhard (von dem La Dépêche zu Beginn des Kriegs noch zwei Artikel bringen konnte) und viele andere Deutsche in einem der erwähnten Lager interniert zu werden.
Im Blick auf solche Entwicklungen war und ist es wichtig, an den Widerstand gegen sie zu erinnern – als Ehrerbietung und als Aufforderung, es nicht wieder so weit kommen zu lassen. Adolf Wild hat dazu beigetragen, als er 1983 die Sammlung erstmals veröffentlichte, die hier wieder vorgelegt wird – damals wie heute unterstützt vom Goethe-Institut Toulouse und der Dépêche du Midi. Dass die von ihm nur auf Französisch aufgenommenen Artikel nun auch in ihren deutschen Fassungen erscheinen (wie sie damals schon an anderen Orten veröffentlicht oder für die Kritische Gesamtausgabe der Essays und Publizistik Heinrich Manns, die im Aisthesis Verlag Bielefeld erscheint, erstmals übersetzt wurden), soll der Verständigung zusätzlich dienen. Es berücksichtigt, dass Menschen aus Frankreich und Deutschland sich zwar nicht mehr so fremd sind wie in der Zwischenkriegszeit oder wie Menschen aus Afrika und Asien sowie aus Europa heute – dass sie sich aber keineswegs bereits problemlos verstehen.
Die Tradition des Bemühens der Dépêche um die Verständigung mit diesen Fremden reicht vor den 30. Januar 1933 zurück. So hatte die Zeitung am 16. August 1927 einen Beitrag von Francis Dortet veröffentlicht, in dem dieser einen Artikel Heinrich Manns über „Die Literatur und die deutsch-französische Verständigung“ vorstellte und als „Hoffnung“ würdigte. Die schnelle Antwort des Deutschen erschien fünf Tage später direkt unter dem Zeitungskopf in der Mitte der ersten Seite. Sie trug den Titel „Für ein geistiges Locarno“ und dachte die 1925 in dem Schweizer Ort beschlossene Anerkennung der Grenzen zwischen Frankreich und Deutschland und dessen Eintritt in den Völkerbund weiter zu der Möglichkeit, die „nationalistische Idee“ durch gemeinsame geistige Anstrengung zu überwinden.
Hinter dem Pseudonym Francis Dortet war der Chefredakteur der Zeitung erkennbar, François de Tessan. In den 1930er Jahren war er zeitweise als Unterstaatssekretär im Außenministerium tätig. Gegen jenes Deutschland, das Wirklichkeit geworden war, und um seinem Land die verlorene Menschlichkeit zurückzugewinnen, ging er in die Résistance. Am 22. April 1944 starb er im Konzentrationslager Buchenwald. Keine siebzehn Jahre zuvor hatte er Heinrich Mann und implizit jene Intellektuellen, denen seine Zeitung seit dem Februar des Jahres 1933 das Wort gab, gefragt: „Wird es ihnen gelingen, stärker zu sein als die reaktionäre Jugend und der Geist der Revanche, die so viele Anhänger haben? Wird ihr Liberalismus ein isoliertes Muster sein oder das Programm des neuen Deutschland werden?“
Die Fragen stellen sich, wenig verändert, erneut.