21. Jahrgang | Nummer 16 | 30. Juli 2018

„Er grub sich selber jeden Tag sein Grab“. Fallada als Lyriker

von Ulrich Kaufmann

Im In- und Ausland erlebt das Werk Hans Falladas seit Jahren eine erstaunliche Renaissance, freilich auch dadurch, dass immer mehr vergessene Texte publik werden und sich neue Facetten seiner bewegten Biografie zeigen. Nun kommt er erstmals in einer Auswahl als Lyriker zu Wort: Von den etwa 70 existierenden Gedichten sind 42 zu lesen. Die Broschüre Nr. 32 der Reihe „VERSENSPORN. Heft für lyrische Reize“ erinnert rein äußerlich an die „Poesiealben“, die zu DDR-Zeiten begründet und nach dem Umbruch 1989 weitergeführt wurden. Diese Alben stellen mehrheitlich gestandene Lyriker vor. Tom Riebe, der Herausgeber der Jenaer Lesereihe „POESIE SCHMECKT GUT“, in der auch „VERSENSPORN“ erscheint, und seine Mitstreiter gehen einen anderen Weg. Sie spüren Lyriker auf, die auch Literaturliebhabern kaum bekannt sind.
Dass auf dem Umschlag der Nr. 32 der weit weniger bekannte Autorenname Rudolf Ditzen steht, ist korrekt, da die Gedichte zwischen 1912 und 1917 entstanden sind, im expressionistischen Jahrzehnt. Der Name Ditzen steht für das „Vorwerk“. Erst mit seinem Romandebüt „Der junge Goedeschal“ hat sich Ditzen 1919, bekanntermaßen nicht ohne äußere Zwänge, den Künstlernamen Hans Fallada zugelegt.
Ditzens Verse weisen einen einfachen Bau auf. In der Mehrheit bestehen die Strophen aus vier Versen. Durchgehend werden gekreuzte Endreime genutzt. Auch Binnen- und Stabreime fallen auf. Immer wieder begegnen uns interessante Wortneuschöpfungen.
Bereits das auf dem Cover zu sehende Aquarell „Sterne II, Mord“ (1922) von Otto Dix führt den Leser in die Texte ein. Dix zeigt eine ermordete Prostituierte. In seinen Versen spricht der Lyriker Themen an, die verständlicherweise mit seiner Situation in jenen Jahren zu tun haben: Von Liebe, Eifersucht, Selbstfindung, geistiger Verwirrung, von Mord- und Selbstmordgelüsten, Prostitution und Depression ist die Rede. Die ersten Gedichte entstanden vor dem Ersten Weltkrieg, weitere dann während dieses Krieges. Im September 1914 meldete sich Ditzen freiwillig zum Kriegsdienst, wurde aber bald ausgemustert. Die politischen Dimensionen dieses Epochenumbruchs setzte Ditzen nicht in lyrische Bilder. Dass die Welt aus den Fugen geraten war, spürte er, die Konflikte trug er im Privaten aus.
In dem Gedicht mit dem „harmlosen“ Titel „Abendspaziergang“ erfährt der Leser am Ende, dass sich der vereinsamte und zurückgewiesene lyrische Sprecher durch das „sehnende Gebrüll“ eines Kuhstalls angezogen fühlt.

„Er hat sich dort von einer Kuh genommen,
was ihm das Mädchen nicht gewähren will.“

Bei einigen Gedichten spricht als lyrisches Subjekt eine Frau, etwa in „Mädchen“ und „Büro“.
Manche der mit mitunter grausam-gruseligen Texte bleiben im Verständnis dunkel. Eines dieser Gedichte hat Ditzen völlig zutreffend mit „Rätselhaft“ überschrieben. Auch wenn Ditzens lyrische Gebilde formal konventionell daherkommen, sind sie stofflich-thematisch immer wieder durch den expressionistischen Zeitgeist geprägt. In dem Gedicht „Taumel im Bordell“ heißt es:

„Licht hängt wie Eiterschleim in einem Zimmer,
Die Decke drückt zum Boden ihre Last,“

In einigen Gedichten arbeitet der Autor mit These und Antithese, wie man dies bei anderen Poeten oft in Sonetten findet. Die letzte Versgruppe des Gedichts „Mein Leib – Mein Geleit“ (das wohl „Mein Leib – Mein Geist“ hätte heißen müssen) zeigt das antithetische Prinzip:

„Mein Leib geht stets die ausgetretnen Wege
Und steckt philisterhaft in jedem Dreck,
Mein Geist stürmt ferne, ungeahnte Stege
Und reißt nach Licht ins häßlichste Versteck.“

Möglicherweise wäre Ditzens weiterer künstlerischer Weg anders verlaufen, wenn sich ein Verleger (Paul Cassirer, Kurt Wolff oder Georg Müller) für seine lyrische Sammlung „Gestalten und Bilder“ interessiert hätte. Nicht einmal dem Cheflektor und Fallada-Editor Günter Caspar ist es Jahrzehnte später gelungen, Falladas frühe Lyrik in „seinem“ Aufbau-Verlag zu publizieren.
Den Hauptanteil bei der Kärrnerarbeit für dieses gelungene Lyrikheft leistete Daniel Börner. Spätestens durch seine gediegene Ausstellung „Das Duell“ – die für die Standorte Jena und Carwitz die Rudolstädter Ereignisse von 1911 aufarbeitete – hat sich der junge Wissenschaftler als Fallada-Kenner ausgewiesen. Er zeigte, wie der Abiturient zusammen mit einem Freund in einem vorgetäuschten Duell Doppelselbstmord begehen wollte, aber nur der Freund starb und Ditzen überlebte schwer verletzt. –Sauber präsentiert er die Quellen und stellt jene biographischen Fakten bereit, die einen Zugang zu den Gedichten ermöglichen.
Die Texte hat der Jenaer Editor, Ditzens Absicht folgend, so zusammengestellt, dass sie miteinander kommunizieren: „Mordzimmer“, „Das pervers junge Fräulein“ und „Dirne“.
Ursula Fallada, die zweite Ehefrau des Dichters, war wohl die erste Leserin dieser Texte. Ihre Meinung war dem Lyriker wichtig. Später schenkte er die Gedichte seiner Frau, die die unbekannten Blätter über Jahrzehnte wie ihren Augapfel hütete. Nach seinem Tode solle sie, so wollte es Fallada, entscheiden, was mit dem Manuskript geschieht.
Über verschiedene Umwege gelangten die Gedichte nun, 71 Jahre nach seinem frühen Tod 1947, auch in unsere Hände …

Rudolf Ditzen: Gedichte – Reihe: Versensporn, Edition: Poesie schmeckt gut, Heft 32, Jena 2018, 32 Seiten, 4,00 Euro.