21. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2018

Wie meine Porträtstele für Heinrich Böll entstand – Zum einhundertsten Geburtstag von Heinrich Böll

von Wieland Förster

Als die Zeit für ein Werkverzeichnis für mich herangekommen war und die fleißigen Zusammenträger-innen zu zählen begannen, erfuhr ich zu meinem Erstaunen, dass ich seit 1960 circa 80 Porträts nach freier Wahl gearbeitet hatte, Porträts von mir nahen und auch fernen Dichtern, Musikern, bildenden Künstlern, Dirigenten, Schauspielern, sogar Komponisten (der Ungar Zoltán Kodály sei als Beispiel genannt).
Ich war, als ich das begriff, im Zweifel, ob diese Zahl gut sein kann, denn meinem Lebensgefühl nach waren mir alle vertraut. So oder so, und jeder musste mein Vorankommen bewirkt und die Weite des Denkens befördert haben: kein „Machtmensch“ war dabei. Der Laie muss wissen: Jedes Porträt ist zuerst immer eine Plastik, ein schrundiger oder geschliffener Fels, eine Nadel oder ein Block mit Überhängen, Erkern, sich lang und weit ziehenden Wüsten oder Seen, Wänden aus Bohrungen und Höhlen – und alles das muss zu einem Menschenbild gefügt werden!
Dreißig Porträts waren, vom Schiller-Nationalmuseum betreut, im Jahr 2000 in der Alexanderkirche in Marbach und, von Walter Jens essayistisch begleitet, auch hier, in Frankfurt an der Oder in der Marienkirche zu sehen.
Ja, das mochte angehen, dachte ich mir, wohl möglich, weil all die Großen, von Zeitnot gepresst, dem Bildhauer meist nur fünf Mal eine Stunde saßen, der im langen Vorlauf zeichnend, ein genaues Erkennungssystem, mit feinsten Asymmetrien, Raumachsen, Maßeinheiten erarbeitet hatte.
Unerreichbare (es waren sechs) zeichnete ich mit Porträtstelen aus, ehrende Denkmale, die dem Bildnis Freiheit und Würde geben.(Und nicht zuletzt die statthafte Augenhöhe). Diese Arbeit ist schwierig, aber für den Bildhauer ein Fest der Leidenschaft.
Schon lange gärte in mir der Wunsch, Heinrich Böll, dem Brüderlichen, uneitel im Sein und rein im Wort, irgendwann porträtieren zu können, er war ein Freidenker und Bewahrer. Ich denke an seine Zeit für Solschenizyn, sah ihn bei Demonstrationen, aber hier nicht mit seinen späten Büchern, wie die „Fürsorgliche Belagerung“ und „Frauen vor Flusslandschaft“, vielleicht gab es Ausgaben für „Spezialisten“, im Handel waren die kaum zu haben. Meine Verärgerung darüber war groß, sehr groß: sein Foto aus der Frankfurter Zeitung oder der Welt hing in Lebensgröße an meiner Atelierwand.
Und als das „Westfernsehen“ in der wunderbaren Sendereihe „Autor-Scooter“ ein Interview mit Heinrich Böll ausstrahlte, saß er im Alltagswams, mit einem Pflaster auf dem Handrücken, wo, das war zu vermuten, noch vor Minuten ein Tropf angebracht war. Als er, etwa vierzig Minuten lang, unsortierte Fragen beantwortete, war meine Stunde gekommen: Ich zeichnete ihn wie besessen und benommen, warf mein Erkennungsnetz über sein Gesicht, (glücklich!), denn nun hatte ich ihn, war so genau informiert, dass ich Tage danach eine Stele begann, in der ich ihn meinem Blick unterwarf und ihm zugleich huldigte.
Nach der Wende kam Bölls Sohn René in ein Akademieatelier am Pariser Platz, zögerlich erst – das war für ihn keine leichte Mission – , umging sie in Erwartung, starrte der Stele ins Gesicht, sagte: „mein Vater“, während seine Augen in Tränen ertranken. Dann lief er hinaus in die Stadt, um nach Stunden zurückzukehren.
Alles Weitere sollte in Langenbroich, dem ländlichen Arbeitssitz Bölls, seinen Fortgang finden.
Seit 1991 wachen die Bibliothekarinnen der Heinrich-Böll-Bibliothek im Prenzlauer Berg, Greifswalder Straße, über ihre Stele.
(10.12.2017)

Heinrich Böll wurde am 21. Dezember 1917 in Köln geboren. Er hatte sich intensiv für den russischen Schriftsteller und Nobelpreisträger von 1970 Alexander I. Solschenizyn eingesetzt und ihn nach dessen Ausweisung aus der Sowjetunion 1974 zunächst bei sich aufgenommen. (Anm. d. Red.)