von Jens Langer
„Warum sie sich nun 1954 den Stil von 1945 nicht abgewöhnen wollen?“ So fragt der Protagonist in Rolf Gerlachs Tagebuchroman „Eselsbrücke“ angesichts von DDR-Führungskadern, um sie anschließend als „Kampflieder singende Trainingsanzüge“ zu persiflieren. Das Buch ist 1984 erschienen, 1985 und 1986 kam es zu weiteren Auflagen. Es ist ausgerechnet oder „natürlich“ im ND rezensiert worden. Astrid Böhme hebt dort ganz und gar auf die Verantwortung des Künstlers ab, der hier gewiss vielfältig begabt sei, aber eben auch unduldsam und selbstgerecht. Nichts von Theologie und Gesellschaftskritik, aber auch kein Verriss, keine Denunziation. Allerdings weist Böhme hin auf eine Abkehr Schernagels „von eingeengten Vorstellungen seiner Eltern“. Aha, Nachtigall, ich hör‘ dich (listig sachte) trapsen.
Ich habe den Tagebuchroman bald nach seinem Erscheinen erworben. Der Name des Autors war mir nämlich bekannt. In der ersten Hälfte der sechziger Jahre kam Rolf Gerlach eines Abends in einen privaten Lesekreis für Philosophie an der Theologischen Fakultät Rostock, den Oberassistent Dr. Peter Heidrich leitete. Dieser stellte uns Rolf Gerlach als einen seiner Kommilitonen vor, der auch Bücher schriebe. 1971 kam „Der Bräutigam“ heraus. Dreizehn Jahre später kaufte ich „Eselsbrücke“. Gelesen habe ich das Buch erst jetzt. Aus Unaufmerksamkeit. Leider.
Der 1935 in Leipzig geborene Autor hat in mehreren Berufen gewirkt und dabei seine breit gefächerten beruflichen Interessen ausgelebt. Voraussetzung für einen Theologen von echtem Schrot und Korn. Er hat sich zuerst aber immer als Schriftsteller verstanden. Nach kaufmännischer Lehre und nachgeholtem Abitur studierte er also zunächst Theologie, sodann Musik und wurde auf Grund einer kirchengeschichtlichen Dissertation promoviert. Er arbeitete als Assistent in griechisch-römischer Altertumskunde, war auch Lehrer für Musiktheorie und TV-Redakteur. Neben den bereits genannten Werken publizierte er „Cello unter Trümmern. Erzählungen“ (1988) und 1997 „Mieze predige du. Eine Pastorenbiografie“ (Die Kompetenz und Empathie, mit der Gerlach ein Pastorenleben zwischen Pfarrhaus und Kommune, Gemeinde und Freundschaft dokumentiert und analysiert, veranschaulicht, dass der Autor evangelische Theologie durchaus und mit heißem Bemühen, vor allem aber nachhaltig studiert hat). Ferner gehören Lyrik und Rezensionen für den Berliner Rundfunk zu seinem Werk, aber auch Libretti für Komponisten. 2001 erschien im Lukas-Verlag „Zepernick bei Berlin. Das Domdorf im Spiegel alter Akten“. In Zepernick lebt Gerlach seit 1968, und ich muss diesen Titel dankbar erwähnen, weil daraus die meisten hier zu lesenden biografischen Angaben stammen.
Mich interessierte zunächst der Handlungsfaden Rostock und seine Theologische Fakultät. Ich hoffte auf kräftige Striche bei der Zeichnung des Lehrkörpers mit Wiedererkennungseffekten. In der Tat lassen sich die Professoren Gottfried Quell, vielleicht auch noch Martin Doerne erkennen, man könnte auch an Walther Glawe denken, Schwiegersohn eines Bismarck-Enkels, der 1933 in einem rechtsextremen Kontext die Verleihung des Namens „Ernst Moritz Arndt“ an die Universität Greifswald beantragt hatte, später sogar zur SED und Deutsch-Sowjetischen Freundschaft (DSF) fand, aber zur Roman-Zeit vermutlich schon nicht mehr in Rostock war. Peter Heidrich ist wichtige Bezugsperson, die nahe beim Klarnamen „Heiderling“ genannt wird. Da gibt es im ersten Teil des Buches Kurzporträts des Kollegiums, Semestererfahrungen nebst Liebe und Ernteeinsatz samt „fröhlichem Kleinkrieg“ mit Germanisten und Geologen. Die Landarbeiter feixten über den emsigen Erntefleiß von „de lütten Pastors“ und genossen offensichtlich den städtischen Besuch. Protagonist Uwe Schernagel konstatiert für sich und Kommilitonen dort auf dem Acker von Schaprode ein neues Weltgefühl: Weder sind sie die akademische Elite noch verkörpern sie eine überholte Kultur: „Je schwerer uns die Erde machte, desto leichter wurden wir.“ Erfahrungen in der Christenlehre und bedrängende FDJ-Werbung verfügen über einen hohen Wiedererkennungseffekt für Bürger hierzustaate. Original Rostocker Internatsflair verbreiten die Schilderungen des Lebens im sogenannten privat geführten „Horneum“ mit seiner adligen Chefin.
Die Gottsuche jedenfalls gelangt noch nicht an ein Ziel, und die Selbstfindung scheitert auch. Also ein Neustart für den Extheologen Uwe Schernagel. Auf nach Greifswald! Ausgerechnet zu diesem von der Alma Mater Rostochiensis einst als Ausweichquartier genutzten locus academicus. Wegen einer Reichsacht gegen Rostock. Aber das war 1436! Nichts also, was Schernagel kümmert, der Bibliothekar wird. Auch hier scheitert er – Parallelen zu unangepassten DDR-Biografien unter Intellektuellen. In Ehe und Familie sowie mit Freunden und Kollegen gibt es schwere Konflikte. Ohne Schönfärberei werden Hindernisse im Individuum selbst und in der Gesellschaft gegen nachhaltige Glückserfahrung anschaulich gemacht. Und das alles 1984 in einem uns wohlbekannten Land. Dazu hierorts oft gedachte, aber üblicherweise nicht gedruckte weitere Kritik. Ein naher Verwandter, zugleich einer der wenigen Fabrikbesitzer damals noch, erklärt: „Und eines Tages, […] da bin ich sicher, kehrt selbst der Sozialismus zu den alten bewährten Methoden des freien Marktes zurück, will er nicht im eigenen Saft ersticken.“ Hat der Zensor geschlafen oder gab es einen raffinierten Förderer fürs Unmögliche und eine solche Publikation? Müßig so zu fragen, wenn die zeitnahe Lektüre sowieso verschlafen wurde…
Aus meinem ursprünglichen Vorhaben, die Theologische Fakultät Rostock der Kieler Fakultät gegenüberzustellen, konnte nichts werden, zu unterschiedlich Raum und Zeiten bei Gerlach und der „Dienstbesprechung. Eine komische Geschichte“ von Reiner Preul, Professor em. für Praktische Theologie an der Förde, mit Beobachtungen im ausgehenden 20. Jahrhunderts daselbst (Universitätsdruckerei Kiel). Stattdessen gab es völlig überraschend Politik- und Kulturgeschichte zu entdecken, die ein mehr und mehr verdrängtes Spektrum der Gesellschaft der fünfziger Jahre in bunten Farben aufleuchten lässt in dichterischer Freiheit.
Auskunft über Rolf Gerlach habe ich übrigens auch zu erlangen gesucht bei Ines Geipel/Joachim Walther, Gesperrte Ablage. Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945-1989. Da dort anhangsweise in einem „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“ auch kritische Autoren, die zeitweise publizieren konnten, wie Bernhof, Grüning und Rathenow aufgeführt werden, schien es mir zunächst möglich, dort auch Rolf Gerlach zu finden. Er war dort aber nicht verzeichnet. Der Mann scheint eben grenzwertig auf vielen Ebenen. Aber er hat mindestens ein Buch verfasst, das zur Lebenswirklichkeit der DDR gehört, die so eng verwandt mit der in der ehemaligen BRD ist und doch so anders, wenn sie in der Tiefe verstanden werden soll. Damit liegt hier ein spezieller Beitrag zur deutschen Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert vor.
Rolf Gerlach: Eselsbrücke. Tagebuchroman, Verlag der Nation: Berlin 1984, 472 Seiten. Im Internet noch antiquarisch zu erwerben.