20. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April 2017

Flanieren an der Seine – François Villon

von Gertraude Clemenz-Kirsch

„Mit François Villon“, so Stefan Troller, „fing es an, das französische Chanson […] mit seiner Lebenslust und Todesangst, seiner Verherrlichung von Suff und Gossenliebe, seinem rotzigen Dichterhochmut gegen die Mächtigen, seiner Verbrüderung mit den Elenden. Da hört man zum ersten Mal jenen aufsässigen Ton, der an Thronen rüttelt, da läuft schwarzer Humor Sturm gegen Resignation und Liebedienerei, da fließen Zoten und drastischer Pariser Argot in die schönen klassischen Formen ein, als hätten sie schon immer dazugehört.“
Tief muss man in die Geschichte Frankreichs eintauchen, um den großen Dichter zu verstehen. Wie sah es im Frankreich des ausgehenden Mittelalters aus?
Um 1431, dem Jahr der Verbrennung Jeanne d’Arcs auf dem Scheiterhaufen in Rouen, kam François Villon zur Welt.
Seit 1339 wütete der Hundertjährige Krieg. Unendliches Leid hatte er den Menschen gebracht. Es war eine Zeit des Umbruchs und des Schreckens, des Hungers und des Todes. Alles im Lande befand sich in Auflösung. Die Engländer hatten Paris besetzt, und die schwarze Pest wütete. Um ein Drittel war die Bevölkerung reduziert. Die Bauern strebten in die Städte, um Arbeit zu finden, an den Höfen wüteten Cliquenwirtschaft und Familienkrieg.
In diese Zeit hinein wurde François Villon geboren. Fanatismus und Aberglauben in den Köpfen, Galgen und Scheiterhaufen im Land stellten ihn vor die Wahl, unterzugehen oder wölfisch zu leben.
Der Krieg war nicht spurlos an den Menschen vorübergegangen. Wegelagerer und Verbrecher trieben am Pariser Stadtrand ihr grausames Spiel. Sie beraubten die Bürger und vergewaltigten Frauen. Wer erwischt wurde, musste im Grand Châtelet, dem ältesten Stadtgefängnis, schmachten: Verräter wurden enthauptet, Fälschern wurde die Zunge durchbohrt, nur Frauen wurden nicht gehängt, sie wurden lebendig begraben.
Krank war Paris und ausgehungert, Pest und Pocken hatten sie von zweihunderttausend Einwohnern auf achtzigtausend schrumpfen lassen, die Lebenserwartung der Menschen lag bei fünfundvierzig Jahren.
Die Not zwang François’ Mutter, der Vater war gestorben, das Kind in die Hände des Kaplans Guillaume de Villon zu geben, einem angesehenen Geistlichen. Er adoptierte den Jungen und bot ihm eine Ausbildung bis hin zum Studium an der Sorbonne. François wird es ihm danken, indem er später seinen Namen annehmen wird.
Villon, Nom de plume, aber auch le bien renommé Villon und sogar le pauvre Villon ist in seine Texte eingeschrieben. 1452 ward ihm der Titel eines Magisters artium verliehen, damit war er auf Lebenszeit Mitglied der Pariser Universität.
Mit scharfen Augen sah er die Missstände des Landes. Den meisten seiner Zeitgenossen war er an Wissen und Verstand überlegen. Die Moral jedoch verkümmerte bei ihm zur brutalen Selbstbehauptung. In Bordellen sang er seine Jargonballaden, und er kommandierte die ersten Raubzüge. Und das als Magister artium, als Doktor der Philosophie!
1455 geriet er in eine Messerstecherei, bei der der Priester Chermoye ums Leben kam. Ursache war Catherine de Vauselle, in die sich Villon verliebt hatte. Vor dem Hause der Schönen wurde er erbarmungslos nackt durchgewalkt, wie es die Strafbestimmungen forderten. Diese Kränkung hat er nie verwunden. Da wusste er wieder, zu welcher Klasse er gehörte, und tief brannte sich diese Schmach in seine verletzte Seele ein. Er floh und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. 1456 begnadigte ihn Karl VII., doch Villons Zorn ließ ihn nun wirklich zum Rebell werden.
Bei den Coquillards, den Muschelbrüdern, gescheiterten Existenzen, die sich zu Raubbünden zusammengeschlossen hatten, fand er Zuflucht. Unter ihnen, die in wüsten Schenken und Bordellen zu Hause waren, fühlte sich Villon wohl. Hier schreib er die „Räuberballade von Pierre, dem roten Coquillard“, der kein Mädchen weinen sehen konnte. Und sich, „weil auch der Henker nur ein armes Luder war“, ruhig den Strick um den Hals legen ließ.
Wieder in Paris, brach er mit seinen Kumpanen in das Collège de Navarre ein. Er wurde verraten und musste erneut fliehen. Bitter zog er Bilanz im „Kleinen Testament“. Er erzählt von Bordellen und Kneipen, vom Châtelet und der Sorbonne. Das Hôtel-Dieu beschreibt er ebenso wie die Orte, wo der Galgen stand oder wo sich der Cimetière des Innocents befand, der Friedhof der Unschuldigen lag.
Am Hof Charles’ d’Orléans in Blois, der sich freute, endlich mal einen richtigen Kerl unter den vertrottelten Hofdichtern zu haben, wird Villon 1457 zum Kammerpoeten ernannt. Mit der Ballade vom angenehmen Leben verschreckte er noch die Höflinge – dann floh er einmal mehr. Später war es Helayne d’Estienne, die Geliebte des Bischofs Thibaut d’Aussigny, die er verführte. Hinter den dicken Mauern des Gefängnisses von Meung-sur-Loire musste er dafür schmachten. Er sah schon den Galgen vor sich, da erließ König Ludwig XI. nach seinem Regierungsantritt 1461 eine Amnestie.
Dem Tode entronnen, Villon fühlte sich mit seinen dreißig Jahren alt und verbraucht, begann er sein „Großes Testament“ zu schreiben. Er erzählte die Geschichte von Alexander von Mazedonien und dem Piraten, von der üppigen Tafel der Reichen und von Dirnen und Gaunern. Er erzählte von Bittbriefen an die Mächtigen und an die Behörden, aber auch Nachrufe auf die Gehängten lässt er nicht aus. Finster und drängend wurde sein Ton.
Villon überlieferte uns damit Namen, von denen heute ohne ihn keiner mehr etwas wüsste: Er schreibt von Colin de Cayeux, der gehängt wurde, von Maître Jean le Cornu, dem Kriminalschreiber des Gefängnisses Châtelet, von Jean Marceau, dem Wucherer, von Jean Trouvé, dem Fleischergesellen, und einem Säufer namens Maître Jean Cotard, dem man nicht den Becher aus den Händen reißen konnte. Und natürlich von der dicken Margot, seiner Geliebten, der er eine ganze Ballade widmet:

Und item meinem Lieb Margot,
Die, dick und hübsch und sanft und froh, […]
Uns plagen Ehrbegriffe nicht noch Flausen
In dem Bordell, in dem wir beide hausen.

Kaum aber war Villon wieder in Paris, machte er dem Polizeiobristen seine kleine Denise abspenstig. Das Todesurteil erreichte ihn doch noch. Am Galgen sollte er gehängt werden, und Villon schrieb:

Franzose bin ich – nicht zum Spaße!,
Stamm aus Paris, nah bei Pontoise,
Werd ich am Galgen hochgezogen,
Weiß ich, wie schwer mein Arsch gewogen.

Welches Fest für Paris! Man hoffte, durch das Strangulieren eines berühmten Poeten und ebenso berüchtigten Banditen ein riesiges Gaudium zu erleben. Die Miete der Stände der Händler und Gaukler und die Plätze der Moritatensänger wurden fünfmal teurer als sonst.
Villon bat das Parlament um Gnadenerlass, und das Todesurteil wurde in eine zehnjährige Verbannung umgewandelt. 1464 gab man ihm das mit schwarzen Siegeln versehene Dokument. Die Söldner des Königs vertrieben den Fünfunddreißigjährigen aus Paris. Bis nach Brüssel und Antwerpen konnte man seine Spur verfolgen, dann verlor sie sich in der Ferne. Selbst der König, der sich nach ihm umsah und dem Dichter als Trost einen Orden in die Verbannung senden wollte, konnte ihn nicht finden …
Die Legende berichtet, Villon sei der Brüderschaft vom Kloster zum Heiligen Gral beigetreten. Aber in den Urkunden des Klosters finden sich keine Beweise.
Die erste Edition seiner Werke erschien 1489.
Postum.

Wird fortgesetzt.