20. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2017

Flanieren an der Seine – von Henri Quatre zu „Shakespeare and Company“

von Gertraude Clemenz-Kirsch

Ich bin süchtig nach Paris. Ich weiß es, aber immer wieder zieht es mich in diese Stadt. Diesmal – das habe ich mir fest vorgenommen – werde ich nicht alleine fahren. Diesmal nehme ich alle meine Freunde mit.
Doch verflixt … schon habe ich mich mit diesem Vorhaben gründlich verrechnet. Wie soll ich um Himmels willen alle unter einen Hut bringen? Schon im Hotel vielleicht würden mich die ersten am liebsten zerreißen. Das Hôtel Henri Quatre ist nämlich eine der „kuriosesten Herbergen der Innenstadt“, wie wir von Stefan Troller, dem ehemaligen Journalisten von Paris Journal erfahren: „Kurios nicht nur, weil das Haus unter Denkmalschutz steht, sondern weil die einfacheren Zimmerchen schon für derzeit sensationelle 49 Euro zu haben sind, allerdings die Toilette und Dusche auf dem Gang.“ Aber Vorsicht, bei der Bestellung sollte man dem Patron unbedingt sagen, dass man sein Zimmer sur la Place haben möchte. Warum das? Paris ist so dicht bebaut, zumal auf der Île de la Cité, dass die Rückfronten der Häuser fast zusammenstoßen. Das bedeutet, dass die Cour, der Hof, wohin man nämlich in vielen Hotelchen blickt, hier einfach nur ein Luftschacht ist, in dem die Abzugshaube der Hotelküche, die Toilettenfenster oder allerhand Rohrsysteme untergebracht sind. Es riecht nicht gut dort.
Wer aber im Henri Quatre das große Glück hat, aus seinem Zimmerfenster von oben herab über die dreieckige Place Dauphine zu schauen, fühlt sich tatsächlich wie der französische König in eigener Person. Er blickt auf vornehme weiße Häuser, in denen früher die Familien der Offiziere der königlichen Armee wohnten. Er sieht die prächtigen Kastanienbäume, die zu jeder Jahreszeit anders farbig erscheinen, und er kann, wenn er den Kopf weit aus dem Fenster streckt und scharf nach rechts schaut, über dem schiefergrauen Dach des Palais de Justice den Turm der Sainte-Chapelle und die beiden stumpfen Türme von Notre-Dame de Paris erkennen. Ganz zur eigenen Erbauung hat er überdies die Möglichkeit, schon morgens oder am Abend dem Jeu de Boules zuzuschauen oder den Damen und Herren, die nebenan ihre traumartigen langsamen gymnastischen Übungen zelebrieren – und dann, spätestens dann wird in ihm dieses ganz undefinierbare, beglückende und erhebende Parisgefühl wach.
Doch lasst uns zunächst die steile Wendeltreppe im Inneren des Hotels erklimmen und die Zimmerchen aufsuchen. Was haben doch diese kleinen Räume alles zu bieten! Da finden wir ein winziges grand lit, das ist ein Doppelbett für zwei Personen, einen Stuhl, und dahinter an der Wand den Schreibtisch. (Manche Zimmer haben sogar eine winzige Toilette mit Dusche, aber die kosten dann etwas mehr.) Und oho, spätestens, wenn wir die Schublade des alten Möbels aufziehen, sind wir wieder an Trollers Worte erinnert: „eine der kuriosesten Herbergen der Innenstadt“. Haben doch auf dem Boden des Schubfaches verliebte Pärchen die Visitenkarten ihres glücklichen Aufenthaltes hinterlassen. Manche von ihnen sogar eine Inschrift, dass sie nichts von Paris gesehen hätten, weil sie die übergroße Liebe nicht aus dem Zimmerchen gelassen habe.
Der Frühstücksraum, in dem man seinen großen französischen Kaffee mit einem kleinen Stück Baguette und einer Winzigkeit Butter und Konfitüre genießen kann, ist im Entresol untergebracht. Das ist das niedrige Zwischengeschoß über dem Eingang vieler französischer Häuser, das einen immer wieder in Verwirrung bringt, wenn man die Stockwerke zählen möchte. Wer rechtzeitig aus dem Bett kommt, kann sich glücklich schätzen, wenn er die beiden Sesselchen unter dem Rundbogenfenster ergattert, es ist der begehrteste Platz.
Oder besser – war es. Denn leider ist das Kleinod im Herzen von Paris verkauft worden. Nun gibt es an seiner statt vornehme Eigentumswohnungen. Cʼest la vie, lassen wir uns den Aufenthalt nicht verderben und schlendern weiter.
Bereits nach wenigen Schritten in Richtung Pont-Neuf kommt uns hoch zu Ross der französische König Henri Quatre entgegen geritten. Ja, es ist dieser Henri Quatre, den Heinrich Mann in seinem großen Roman beschrieben hat. „Der Knabe war klein, die Berge waren ungeheuer.“ Was für einen Sog hatte damals der Autor in uns mit diesem ersten Satz ausgelöst. Unbedingt wollte man mehr über die Handlung erfahren! Nein, an diesem Monarchen können wir nicht vorübergehen, denn „die Beziehung zwischen Heinrich IV. und seiner Hauptstadt ist eines der reizvollsten Kapitel der Geschichte von Paris“. So Hermann Schreiber, ein ausgewiesener Kenner der Stadt und ihrer Geschichte.
Henri IV., 1553 tief in den Pyrenäen, im Schloss von Pau, geboren und als Säugling sanft in den Panzer einer Meeresschildkröte gebettet, wurde als Jugendlicher Anführer der Hugenottenbewegung in Frankreich. Am Tage seiner Vermählung mit Margarete von Valois in Paris aber, als Tausende von Glaubensgenossen des protestantischen Henri von Valois zusammengekommen waren, am 24. August 1572, dem Bartholomäustag, wurde auf Befehl der Königinmutter Katharina von Medici ein Gemetzel veranstaltet, das unter dem Namen Pariser Bluthochzeit in die Geschichte eingegangen ist. Als Henri nach dem Tode Heinrichs III. die französische Krone zufiel, wurde er von der katholischen Liga derart bekämpft, dass er letztendlich 1593 mit den Worten: „Paris ist eine Messe wert“ zum Katholizismus übertrat.
Wir werden von diesem Monarchen hören. Einige interessante Zeugnisse seiner Architektur können wir aber schon hier auf der Île finden. Es sind es die beiden ersten Häuser, die noch aus der Zeit Henris IV. stammen. Grau die Schieferdächer, weiß der Parisstein als Zierde an den Simsen und Fenstern, und rot das füllende Ziegelwerk.
Über den Pont Neuf, der 1605 nach dreißigjähriger Bauzeit fertig gestellt worden war und der übrigens neben dem Pont Royal die ersten Gehsteige von Paris hatte, verabschieden wir uns von Henri IV. und schlendern am linken Ufer der Seine entlang. Die Place Saint Michel lassen wir hinter uns, um in das Quartier Latin, das lateinische Viertel, zu gelangen.
Gestatten wir uns noch einen kurzen Blick in ein Antiquariat, das sich Shakespeare and Company nennt und dem Enkel des amerikanischen Dichters Walt Whitman gehörte. „Eröffne Buchhandlung in Paris – Stop – Schicke bitte Geld – Stop“ telegraphierte Sylvia Beach an ihre Mutter und eröffnete mit Adrienne Monnier 1919 die erste Leihbücherei in Paris, in der man Englisch sprach. Diese wurde ein Treffpunkt amerikanischer Autoren und Künstler wie Gertrude Stein, Hemingway, Pound, Lawrence, Thornton Wilder oder Man Ray.
Berühmtheit erlangte Sylvia Beach 1922 durch die Veröffentlichung des Romans Ulysses von James Joyce. Vergeblich hatte dieser versucht, sein Buch in einem englischsprachigen Land zu publizieren. Da hatte sich die enthusiastische Sylvia Beach schon mit ihrer Buchhandlung in der Rue de l´Odéon niedergelassen. Junge Schriftsteller aus aller Welt trafen sich dort zu Dichterlesungen. Doch die Veröffentlichung von Ulysses brachte die Eigentümerin an den Rand des Ruins. 1941 schließlich musste Sylvia hastig mit Hilfe ihrer Freundinnen die Buchhandlung ausräumen und das Schild Shakespeare and Company übertünchen, denn die Nazis wollten sie festnehmen. Sie hatte sich geweigert, einem deutschen Offizier ihr eigenes Exemplar von Finnegans Wake, das letzte Werk von James Joyce, zu verkaufen.
Seit 1964 trägt eine 1951 von George Whitman eröffnete Buchhandlung in der Rue de la Bûcherie No 37 zu Ehren von Sylvia Beach wieder den Namen Shakespeare and Company.
Doch nun wollen wir weitergehen und dem großen Dichter und Sänger François Villon unsere Aufwartung machen.

Wird fortgesetzt.

Gertraude Clemenz-Kirsch, Jahrgang 1942, absolvierte ein Studium an der Palucca-Schule Dresden. Es folgten Abschlüsse und Tätigkeiten im medizinischen Bereich und schließlich ein Bibliothekarsstudium sowie eine langjährige Leitungstätigkeit im Bibliothekswesen. Die Autorin ist Verfasserin unter anderem mehrerer Bücher über Picasso und dessen Umkreis. Sie lebt in Halle an der Saale.