20. Jahrgang | Nummer 4 | 13. Februar 2017

„Ich brauch das Scheinwerferlicht“ – Die Berliner Iphigenie

von Reinhard Wengierek

„Übernehmen Sie doch bitte“, sagt Kathleen Morgeneyer. Und reicht mir ihre Tochter Fehnja übern Tisch. Im gemütlich abgewetzten „Felix Austria“ in der Berliner Bergmannstraße. Mutter Morgeneyer mit dem märchenhaft langen Haar wohnt ums Eck, die große Tochter Maya, drei Jahre, steckt in der Kinderbetreuung. Und ihr Mann vorm PC. „Geht ganz gut“, findet sie. „Eckhard in der IT-Branche, ich – abgesehen vom Babyjahr – im Theater“; ihre Stücke im Deutschen Theater laufen trotzdem weiter mit ihr.
Entspanntheit „vom Hochdruck Bühne“ in der Kreuzberger Kaffeestube. Unser Treff ‑ eine Gemütlichkeitsszene mit Baby auf rotem Samtsofa. Ihr ging eine freundlich scheue Distanz voraus, die alsbald kippte in eine Art vertrauensvolle Gelöstheit. Also Distanz und Nähe, dicht beieinander. Die Gabe, sich hingebungsvoll öffnen, sich umstandslos locker und frei machen zu können, diese souveräne Grundgestimmtheit einer gewiss immer auch heiklen Rückhaltlosigkeit ist ein starkes Fundament, auf dem diese längst zu den Großen der Zunft zählende Schauspielerin ihre Kunst baut. – Dafür bekam sie kürzlich im Hamburger St.-Pauli-Theater den mit 10.000 Euro dotierten Ulrich-Wildgruber-Preis, der seit 17 Jahren im Gedenken an den bedeutenden Schauspieler Ulrich Wildgruber vergeben wird. Und der „eigenwillige Begabungen fördern“ soll, „die in einer Welt von geklonten Fernsehgesichtern besonders aufgefallen sind.“
Es ist also gerade die besagte, so besondere „Durchlässigkeit“, die beispielsweise den legendären Regisseur Jürgen Gosch gleich am Anfang von Kathleens bemerkenswert steiler Karriere, damals in Düsseldorf 2005, sofort erkannte. Als kostbaren Humus, aus dem ein weit gespannter Ausdrucksreichtum erwächst; den er dann drei Jahre später nutzte in seiner „Möwe“-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin – steht noch heute im Spielplan. Er besetzte K.M. für die Rolle der ach so ätherischen und euphorischen, so trostlos lebensernüchterten und verbitterten Nina. – Das war für die 32-jährige Anfängerin drei Jahre nach Abschluss des Studiums Spitze in jeder Hinsicht: Das DT-Ensemble (mit der Harfouch als Arkadina), der Regie-Star Gosch, die Hauptstadt, der Fachjournalisten-Titel „Beste Nachwuchsschauspielerin“, das Theatertreffen, der Alfred-Kerr-Preis. „Eine Hochbegabte mit so vielen schönen Fähigkeiten, dass sie auf der Bühne nicht spielt, sondern lebt“, rief ihre berühmte Kollegin Jutta Lampe in der Laudatio.
„Ich sah Kathleen zum ersten Mal als Studentin im Frühjahr 2004 bei den Vorbereitungen meiner Senftenberger Intendanz“, erinnert sich Regisseur Sewan Latchinian. „Eine Kooperation mit der Berliner Ernst-Busch-Hochschule war geplant; ein Gegenwartsstück. Sie spielte vor. Und sofort fesselte mich die schonungslose Unbedingtheit ihres Spieles, ihre expressive Entäußerung, ihr Mut zur Hässlichkeit und zugleich ihre wunderschöne, scheinbar zerbrechliche, dabei kraftvolle Weiblichkeit. Sie hatte damals schon diese Aura, die man hat oder nicht hat. Und diese dunkle, ganz fein wie von einer weggesteckten Träne gedämpfte Stimme. Unüberhörbar! Unverwechselbar! Sofort war klar: das ist eine kleine Große.“
Morgeneyer, ohne Weggestecktes: „Ja, ich war die Barbie. Eine Göre, die aus blinder Verliebtheit in die rechtsradikale Szene rutscht. Und es war schön und schwer ‑ früh um zehn Schülervorstellung… Herrlich, diese Theaterverrücktheit, die man ‑ wie Sewan damals ‑ ja immer selbst in kleinen Städten entfesseln kann. Ich bin ja selbst mit einer kleinen Truppe über Land gezogen. Das war nach 1994. Zuvor bin ich von zuhause raus. Raus aus dem langweiligen Gymnasium, aus dem öden Nachwendedepressions-Chemnitz. Ich trieb mich durch Berliner WGs, bewarb mich an der Busch-Schule, die lehnte ab: zu unbedarft, ich war ja erst 17, und vertröstete auf später. Doch ich wollte sofort unter Scheinwerfer. Da bin ich an die private Berliner Tanz- und Pantomime-Schule ‚Etage‘; Kosten: 500 DM monatlich. Aber eigentlich war die Sprache meins. Ich brauche Text und Bühne; ich zeige mich gern. Deshalb diese Überland-Spielwiese. Ab und raus im fahrenden Karren. Und die Leute klatschen.“
Sieben Reifejahre später anno 2001 Kathleens Zweitbewerbung bei „Busch“; mit 24. Ziemlich spät zwar, doch dafür hat sie einiges erlebt. „Man muss ja viel wissen in diesem Beruf, vieles wollen, stets dran bleiben, sich alles trauen.“
„Stimmt, Kathleen ist extrem hingebungsvoll – erstaunlich. Weiß aber genau, was sie will, was sein muss. Und setzt das auch durch. Mit sanfter Energie, stiller Insistenz“, sagt Ulrich Khuon, der Intendant des Deutschen Theaters, seit 2011 ihr Arbeitgeber. „Sie ist bei all ihrer bezaubernden Verspieltheit sehr kritisch nicht nur sich selbst gegenüber. Ziemlich ungeschützt – tollkühn.“
Man sollte das Lob Jutta Lampes modifizieren: Morgeneyers Iphigenie zum Beispiel ‑ erst weinerlich wehklagend, dann kühl die Lage sezierend, dann sanft bittend, zuletzt herrisch fordernd unter Regie von Ivan Panteleev – wieder so ein Exempel an „Durchlässigkeit“ (diesmal zwischen zart und hart); oder ihre Eboli, ihre Nina, all diese Figuren mögen sehr wohl auf der Bühne leben. Doch dürfte Morgeneyer genau wissen, was sie da lebt, wenn sie spielt. Der beträchtlich unauflösbare Rest freilich bleibt ihr Geheimnis. ‑ Wie der unvergessliche Gosch ihr riet: „Das Ordentliche musst du nicht spielen. Das kommt von allein.“
Und das Un- oder Außerordentliche ‑ es kam, es kommt glücklicherweise immer wieder. Und keiner weiß letztlich woher. Bauch, Herz, Hirn? ‑ In Düsseldorf mit 28 die erste reguläre Rolle: Desdemona. Dann unter Gosch eine das heiter-lustig Komödische wegsteckende, dafür eine schmerzlich entrückte Olivia in „Was ihr wollt“. ‑ „Bei Gosch habe ich wirklich begriffen, was Theater sein kann. Da war jede Probe wie Premiere. Keine Schonung. Kräftezehrend. Immer ging’s um alles.“
Nach Düsseldorf kam Frankfurt (immer gleich große Häuser!). Hier unter Intendant Oliver Reese die Rolle der neunjährigen Isabelle in Bergmans Drama „Treulose“: Ein Kind mit zukunftsfrohem Blick und dennoch – wieder: Durchlässigkeit! – unfroh verschattet. Als ahne das Gör die ihm bevorstehenden Daseinskatastrophen: Familienzerfall, Verlorenheit. ‑ „Hat allen den Atem verschlagen“, erinnert Reese. „Danach unter Stephan Kimmig die Lulu. Unvergessen, wie sie da zerbrechlich, halbnackt, erotisch provozierend oder bloß gleichgültig, bloß innerlich längst leer an der dreckigen Hand vom alten Schuft Schigolch fest und starr (stur, tapfer, trotzig?) an der Rampe steht. Und Peter Gabriels schwermütiger Song „My Body Is a Cage“ dröhnt in voller Länge. Atemstillstand im Saal. Dazu ihr bestürzend weit aufgerissenes Gesicht…“
Ein Antlitz, das den Zuschauer bannt, aber auch Fantasien auslöst (wieder: diese „Durchlässigkeit“). Ein Gesicht, das eine jede Figur reich macht. Romantisch gesagt: ihr wundersam, gar unheimlich Seelentiefe schenkt.