19. Jahrgang | Nummer 26 | 19. Dezember 2016

„Briefeschreiben ist Mist“
Christa Wolf als Briefschreiberin

von Ulrich Kaufmann

Fünf Jahre nach ihrem Tode erschienen auf 1040 Seiten 483 Briefe von Christa Wolf. Dieser Briefband wurde postum zum opulentesten Buch der weltweit geschätzten Autorin. Die Herausgeberin Sabine Wolf (die mit dem namhaften Dichterpaar nicht verwandt ist) stand vor der gewaltigen Aufgabe, eine Auswahl zu treffen, da die Wolf circa 15.000 Briefe hinterließ. Kenntnisreich und präzise hat Sabine Wolf dieses reichhaltige Material aus fast sechs Jahrzehnten kommentiert.
Glücklicherweise entschied sie sich für Fußnoten, die dem Leser das ständige Zurückblättern in diesem dickleibigen Buch, das sparsam mit Fotos und Faksimiles versehen wurde, erspart. Was für eine engagierte und solidarische Briefschreiberin die Wolf war, wissen wir, seitdem ihre Korrespondenzen mit Anna Seghers, Maxi Wander, Brigitte Reimann, Gerti Tetzner und Franz Fühmann, dem sie 1984 die Trauerrede hielt, in Buchform erschienen.
Der Band setzt am 17. April 1952 ein, er endet am 17. August 2011, ein knappes Vierteljahr vor dem Tode der großen Autorin und bemerkenswerten Frau. Fulminant betrat die junge Christa Wolf das literarische Parkett: Beim Neuen Deutschland reichte die Leipziger Studentin eine Kritik zu Emil Rudolf Greulichs Roman „Das geheime Tagebuch“ ein. Ihre erste gedruckte Arbeit – erschienen im Juli 1952 – stellte sie unter den provokant wirkenden Titel „Um den neuen Unterhaltungsroman“. Wolfs Besprechung wurde vom Romanautor und der Öffentlichkeit als Verriss gewertet. Die BZ am Abend jedenfalls ließ die Idee fallen, den Text als Fortsetzungsroman zu drucken.
In ihrem letzten Brief schließt sich der Bogen: Ihrer italienischen Verlegerin Sandra Ozzola teilt sie nach ihrem Roman „Stadt der Engel“ (2010) das Gefühl mit, „ausgeschrieben“ zu sein. „Dieses letzte dicke Buch ist vielleicht doch so etwas wie eine Bilanz.“
Da im Christa-Wolf-Archiv einige Briefe oder Briefentwürfe im Original vorliegen, zum Teil handschriftlich, ist davon auszugehen, dass die Autorin manches Schreiben nicht absandte. Das gilt etwa für den erschütternd-bilanzierenden, zehnseitigen Brief an Raissa Orlowa-Kopelew, zwei sehr harte Schreiben aus den späten Siebzigerjahren an Herrmann Kant sowie einen kurzen Brief an Erwin Strittmatter vom September 1982. Christa Wolf machte sechs Jahre nach der Biermann-Ausbürgerung den Versuch, den Gesprächsfaden mit den Schulzenhofern wieder aufzunehmen. „Wir hatten den Eindruck, daß ihr unser Verhalten in der Biermann-Sache mißbilligtet und erklärten uns auch daraus Eure Zurückhaltung.“
Briefeschreiben sei Mist – wir zitierten im Titel Wolfs Sentenz. Aber warum traf die emsige Briefschreiberin eine derartige Aussage? Die Autorin war oft krank, phasenweise litt sie unter Depressionen, erfahren wir. Zeit zum Arbeiten ging verloren, auch durch viele Lesereisen und notwendige Kuren. Die viel gefragte Schriftstellerin hatte ein großes Herz und zu Hause warteten nach der Rückkehr die Briefstapel. Sie schrieb an Freunde und Kollegen im In- und Ausland, beantwortete Leserbriefe, auch an Schulkinder, bewertete Arbeiten, die zu ihrem Werk oder dem ihrer Mentorin Anna Seghers entstanden … (Die Seghers-Kennerin plante lange, über die Autorin des „Siebten Kreuzes“ eine Monografie zu schreiben.)
Immer wieder rieb sich Christa Wolf in ihren Briefen auf, kämpfte gegen unhaltbare politische Zustände an Schulen, von denen sie als Mutter zweier Töchter erfuhr. Sie schrieb mehrfach an Erich Honecker und Kurt Hager, wenn es galt, Unrecht von Kollegen abzuwenden oder (in der Endphase der DDR) die Freilassung von Bürgerrechtlern zu erkämpfen. Mitunter trug ihr Engagement Früchte. Als Stephan Hermlin 1962 einer neuen Generation von Dichtern – unter ihnen Sarah Kirsch, Karl Mickel, Wolf Biermann und Volker Braun – zum Durchbruch verhalf, hatte es für den Mentor und die Poeten mitunter schmerzhafte Konsequenzen. Die Wolf mischte sich ein und verteidigte den Philosophiestudenten und hochbegabten Lyriker Volker Braun, der an der Leipziger Universität in die Mühlen der Parteileitungen geriet und kurz vor seiner Exmatrikulation stand. Zwischen Christa und Gerhard Wolf und Braun entstand eine jahrzehntelange Freundschaft. Volker Braun war es, der am Grabe der Freundin als erster das Wort ergriff.
Wolfs schwindende Lust am Briefescheiben hängt auch damit zusammen, dass ihre Post seit den Sechzigerjahren gründlich überwacht wurde. Selten war sie die Erstleserin der an sie gerichteten Briefe. Zunehmend musste sie verdeckt schreiben, sich mit Andeutungen begnügen, um Freunde und andere Adressaten zu schützen. Vieles war nur noch mündlich zu klären – allerdings nicht in ihrer eigenen, auch „verwanzten“ Wohnung.
In dem bereits erwähnten Schreiben an Raissa Orlowa-Kopelew vom 17. März 1984 heißt es: „Meine Post wird beinahe lückenlos kontrolliert. (…) Es gibt seit Jahren von mir keine wirklichen offenen Briefe an Freunde. Das Briefeschreiben ist mir buchstäblich vergangen – bei einem enormen Postverkehr, übrigens. Aber das ist es eben: Anstatt Briefe zu schreiben, erledige ich Post.“ Aber selbstredend ist auch diese unbedingt des Lesens wert.

Christa Wolf: Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten – Briefe 1952-2011. Herausgegeben von Sabine Wolf, Suhrkamp, Berlin 2016, 1040 Seiten, 38 Euro.