19. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2016

Streifzüge durch Oberitalien – Ausklang in Urbino

von Alfons Markuske,
notiert dortselbst

Wer im Frühjahr auf ARD die ersten beiden Urbino-Krimis verpasst hat, dem ist, das Genre Film betreffend, nichts entgangen, was man gesehen haben muss. Zwar passte die televisionär omnipräsente Katharina Wackernagel als eine Art späte Hommage an die Lollo oder die Cardinale hier weit besser in die Rolle und ins Ambiente als bei manch anderem ihrer Auftritte. Aber die Dramaturgie kam wieder einmal nicht ohne abgenutzte Klischees aus. Unterschwellig blieb hängen, wie ein Kritiker vermerkte: „Diese Itaker mit ihrem südländischen Schlendrian sind halt zu einfältig oder zu unfähig, um ihre Mordfälle ohne die Nachhilfe deutscher Fachkräfte klären zu können.“
Urbino allerdings, das mit seiner pittoresken Silhouette in den sanften Hügeln der Marken thront, der mittelitalienischen Region zwischen Adria und Apennin, setzten beide Streifen sehr eindrücklich ins Bild. Das Städtchen wird nicht umsonst als eine „Wiege der Renaissance“ bezeichnet. Insofern boten die Krimis vorzügliche Tourismuswerbung. Und sie versprachen eher zu wenig als zu viel, wie sich am Ort rasch zeigt.
Bevor man sich in den historischen Stadtkern Urbinos mit seinen engen Sträßchen und Gässchen begibt, die zu den steilsten Italiens zählen, kann man sich sehr gut einen ersten Eindruck vom Ort und der ihn umgebenden Landschaft verschaffen, indem man einen Rundgang auf der komplett erhaltenen 2,7 Kilometer langen Stadtmauer unternimmt. Das Panorama ist grandios bis atemberaubend. Heute käme man, obwohl an einigen Stellen immer noch (oder schon wieder) Sanierungsmaßnahmen zu kleinen Umwegen zwingen, nicht auf den Gedanken, dass dieses kulturelle Erbe noch Anfang der 1990er Jahre dermaßen vom Verfall bedroht und schon gezeichnet war, dass sich die Suche nach Sponsoren bis nach Japan erstreckte.
Im Zentrum Urbinos dann überwältigende Renaissance: die Kirche San Domenico, das Mausoleum der Herzöge von Urbino in der Kirche San Bernardino, das frühere Kloster Santa Chiara und insbesondere der riesige Palazzo Ducale, eine eigene Stadt im Städtchen.
Zu verdanken hat Urbino seinen künstlerischen Reichtum vor allem dem Grafen und späteren Herzog Federico da Montefeltro, der von 1422 bis 1482 lebte – Nachkomme einer Familie germanischer Abstammung, der Friedrich Barbarossa die Herrschaft über Urbino und Umgebung verliehen hatte. Er war uns schon als Bauherr von San Leo begegnet. Hier ist es an der Zeit, ein paar Worte mehr über ihn zu verlieren.
Dieser Montefeltro von nicht ganz zweifelsfrei geklärter, wahrscheinlich unehelicher Abkunft galt als einer der erfolgreichsten Condottieri seiner Zeit. Er verdiente sein Geld also als Führer von Söldnern, die er anheuerte und mit denen er sich an den Meistbietenden verdingte. Zum Hintergrund schrieb Wolfgang Kemp in einem Zeit-Beitrag vor etlichen Jahren: Montefeltros „[…] Basis, das Herzogtum Urbino, war zu klein und zu arm, um sich diesen Herrscher leisten zu können. Der Herzog betrieb das Kriegshandwerk, um sich sein Ländchen leisten zu können. Arbeit gab es genug, denn die fünf Großmächte Italiens – Neapel, Rom, Florenz, Mailand, Venedig – fanden so viele Anlässe, sich zu befehden, dass gute Heerführer immer gebraucht wurden.“ Der Auftraggeber konnte durchaus der Gegner aus dem vorangegangenen Feldzug sein. Moral und Ethik spielten in diesem Geschäft keine Rolle.
Das Söldnerunwesen muss im Übrigen ziemlich einträglich gewesen sein, denn außer zu herrschaftlichen Bauten reichte es auch noch dafür, dass dieser Montefeltro zu einem der größten Kunst- und Literaturmäzene im damaligen Italien aufstieg. Er holte so namhafte Künstler nach Urbino wie Piero della Francesca, den geheimnisvollen Großmaler der Frührenaissance mit Interesse auch für Mathematik, dessen Geburtsjahr man nicht kennt und der am Ende seines Lebens erblindete. Della Francesca schuf unter anderem das berühmteste Porträt des Mäzens, ein Doppelbildnis zusammen mit Gattin Battista. Ebenso wie alle anderen überlieferten Porträts zeigt es Montefeltro im Profil von links. So viel Eitelkeit musste sein, denn seine rechte Gesichtshälfte war verunstaltet durch eine Verwundung, die er sich bei einem Turnier zugezogen hatte.
Auch den Vater Raphaels, Giovanni Santi, gewann der Herzog für seinen Hof. Raphael selbst kam bekanntlich in Urbino zur Welt; sein Geburtshaus ist erhalten und kann besichtigt werden. Zeugnisse seines künstlerischen Genies gibt es in Urbinos Mauern jedoch so gut wie keine. Das hat die Stadt nicht gehindert, ihrem berühmtesten Sohn im 19. Jahrhundert ein Denkmal zu stiften, das ihn in aufrechter Pose mit Palette und Pinsel zeigt. Das Monument ist auf einem Platz am oberen Ende jener Straße aufgestellt, in der Raphaels Geburtshaus steht. Dieser Platz ist zugleich einer der höchsten Punkte der Stadt – mit einem weiteren schönen Panoramaausblick ins Umland.
Sein Mäzenatentum deutet schon an, dass Federico da Montefeltro beileibe keine tumber Schlagetot war. Der Mann hatte nicht nur einen Faible für darstellende Kunst, sondern auch klassische Bildung, wovon nicht zuletzt einige Kleinode im Palazzo Ducale zeugen, den er sich zwischen 1463 und 1472 als Herrschaftssitz errichten ließ. Der maßgebende Architekt war der Dalmatiner Luciano Laurana. Bei dem und beim Bau des Palazzo ging Donato di Pascuccio d’Antonio in die Lehre. Der war gebürtig aus Fermignano bei Urbino und sollte später unter seinem Künstlernamen Bramante in die Kunst- und Architekturgeschichte eingehen; sein Hauptwerk – der Petersdom in Rom.
Im Palazzo gibt es zum Beispiel das Studiolo, einen nur wenig über zehn Quadratmeter kleinen Studien- oder Andachtsraum mit Blick hinaus auf die Landschaft jenseits der Stadtmauern. 1472 unter Laurana konzipiert und 1476 in der Ausstattung vollendet, sind die Wände mit kunstvollen Intarsien bedeckt, die, teils in Trompe-l’oeil-Manier, Borde, Bänke und Gitterwerktüren zeigen, hinter und auf denen symbolische Gegenstände die Freien Künste darstellen: Musikinstrumente, Bücher und Noten, wissenschaftliches Gerät wie ein Astrolabium und eine Armillarsphäre, Studiermöbel wie Schreibtisch und Stundenglas und vieles andere mehr. Auch zeigt das Studiolo idealisierte Porträts historischer und zeitgenössischer Persönlichkeiten – von Homer über Plato und Aristoteles bis zu Papst Sixtus IV. und Thomas von Aquin.
Ein Stockwerk tiefer – Zwillingskapellen, von denen nur die eine Gott geweiht ist, die andere hingegen den Musen …
Ein gewiefter Politiker und Diplomat war Federico da Montefeltro überdies, der seine Position im Machtpoker der Epoche clever zu stärken vermochte: Er heiratete dynastisch – eine Dame aus dem Geschlecht der Sforza, einer der mächtigsten Familien der Renaissance, die als Herzöge von Mailand die Lombardei beherrschten. Und er verheiratete ebenso – nämlich seine Tochter mit Giovanni della Vore, dem Lieblingsneffen von Papst Sixtus IV.; der machte ihn im Gegenzug zum Herzog.
Der Palazzo Ducale beherbergt heute die Galleria Nazionale delle Marche, eine der weltweit herausragenden Sammlungen der italienischen Renaissance. Eines ihrer Meisterstücke ist „Die Geißelung Christi“ von Piero della Francesca, geschaffen 1460. Die kunstwissenschaftliche Literatur allein zu diesem Bild und seiner Interpretation ist Legion. Der titelgebende Akt, der hier in der Villa des Pontius Pilatus stattfindet, ist nämlich in den Hintergrund gerückt. Der Vordergrund zeigt drei versonnen blickende Männer. Ist der mittlere von ihnen der von Verschwörern ermordete Halbbruder Montefeltros? War gar der Herzog selbst der Auftraggeber der Meuchelei? Enthält das Bild also womöglich eine verborgene Anklage? Oder ist es Ausdruck herzoglicher Reue? Auch als Allegorie auf die Geißelung der gesamten Christenheit ist es verstanden worden, denn 1453 hatten die Osmanen Konstantinopel erobert. Das war seinerzeit ein Epochenumschwung, ein welterschütterndes Ereignis mit Langzeitwirkung – etwa wie der 11. September in unseren Tagen.
Wenn man dem Palazzo um die Mittagszeit und mit etwas ermüdetem Schritt wieder den Rücken kehrt, ist es nur ein Katzensprung bis zu einem der Restaurants im Herzen von Urbino, in denen sich die vorzügliche regionale Küche genießen lässt.
Damit enden diese Streifzüge durch Oberitalien, die im Übrigen höchst unvollständig waren. Zu viele geschichts- und kunstträchtige Orte lagen ja nicht auf der Route: Mailand, Verona, Padua, Mantua und La Serenissima, Venedig …