19. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2016

Lenins Kopf
Zur Ausstellung „Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler“

von Thomas Flierl

Vor dem Hintergrund der seit 1990 allzu oft im politischen Handgemenge geführten Berliner Denkmaldebatten durfte man mit erwartungsvoller Neugier auf die Eröffnung der neuen Dauerausstellung „Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler“ blicken. Seit dem 1. Mai zeigt die „kulturhistorische“ Ausstellung auf der Spandauer Zitadelle „politische“ Denkmäler, „die das Berliner Stadtbild vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart geprägt haben“, von denen viele jedoch versteckt in Magazinen und Museumsdepots untergebracht waren. Ein Ziel der Ausstellung sei es, sie wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, kündigten die Veranstalter an, und weiter: „Sie werden nicht rekonstruiert, sondern im vorgefundenen Zustand konserviert. So zeigen die Denkmäler ihre eigene Geschichte ohne Pathos und belegen, wie sie zu unterschiedlichen Zeiten rezipiert wurden. Zum Teil werden sie erstmals wieder der Öffentlichkeit zugänglich sein. Die Spuren ihrer Zerstörung, Vernachlässigung, Umgestaltung, Pflege und Erhaltung verdeutlichen den Wandel ihrer Bedeutung und deutsche Geschichte.“
An anderer Stelle wurde vor allem auf die Intentionen der Auftraggeber abgehoben: „Denkmäler sind Zeichen der Erinnerung. Sie dienen der Demonstration politischer Macht, der Identifikation oder des Gedenkens. Sie erlauben Rückschlüsse auf die Intentionen der jeweiligen Auftraggeber.“ Die chronologisch aufgebaute Ausstellung hat sechs Abschnitte:
1. Vor der Reichsgründung 1871
2. Kaiserreich
3. Weimarer Republik
4. NS-Zeit
5. Ost-Berlin und West-Berlin
6. Aktuelle Denkmaldebatte
Die zusammengetragenen Denkmäler werden im aufwändig sanierten, früheren Proviantmagazin der Zitadelle gezeigt, während es in der einstigen Kaserne eine temporäre Ausstellung zu 200 Jahren Berliner Denkmallandschaft gibt.
Schon die Ankündigung der Ausstellung bot Anlass für eine Reihe von Fragen: Was ist überhaupt ein „politisches“ Denkmal? Ist nicht, in gewisser Weise, alle Kunst im öffentlichen Raum „politisch“? Verzichtet man auf die Thematisierung der 2005 vor dem ICC entfernten Bronzeskulptur „Ecbatane – Der Mensch baut eine Stadt“ von Jean Ipoustéguy (1980 aufgestellt), weil sie für „unpolitisch“ gehalten wird? Wie stehen die „politischen“ Denkmäler zu den „weniger politischen“ oder „unpolitischen“ Kunstwerken ihrer Zeit?
Soll die „Geschichtsinsel Zitadelle“ zum Endlager möglicher zukünftiger Denkmalabbrüche oder zur Quarantänestation, zum Abklingbecken von prekären Denkmälern vor deren möglicher Wiederaufstellung werden? Wie kritisch wird sich die Institution selbst in die ja nicht endenden Debatten um vorhandene Denkmäler und um neue künstlerische Denkmalinitiativen einbringen, etwa auch als Forum für immer wieder aufbrechende Denkmaldebatten in Mittel- und Osteuropa?

„Enthüllt“?

Bis in den Titel der Ausstellung hinein ist die auf die Akquirierung von Drittmitteln orientierte Konzeption zu spüren (das EFRE-Programm fördert den Ausbau der touristischen Infrastruktur). Was soll hier eigentlich „enthüllt“ werden? Tatsachen, Körper? Der Ton des Sensationellen beherrscht das ganze Projekt. Welcher Schleier (englisch wird der Ausstellungstitel „Unveiled“ übersetzt) des Geheimnisses wird hier gelüftet? Worin besteht das Unerhörte, das Tabubrechende dieses Projektes?
Üblicherweise werden Denkmäler vor ihrer Übergabe an die Öffentlichkeit eingehüllt, um mit der Enthüllung ihre Wirkung am konzipierten öffentlichen Standort zu entfalten. Mit der Übergabe an die Öffentlichkeit verlieren sie ihre Intimität (der Herstellung), an die Stelle des Schleiers tritt die öffentliche Konvention („das ist ein öffentliches Denkmal“). Wenn die öffentliche Konvention nicht geteilt wird, etwa von Staatsgästen, verhüllt man bisweilen sogar vorübergehend öffentliche Denkmäler – so gerade in Rom zum Gespött eines großen Teils der Welt geschehen.
Nun wurden in der Zitadelle Spandau bislang aus politischen Gründen abgebrochene und der Öffentlichkeit verborgene Denkmäler im geschützten Raum „enthüllt“. Sollen sie nach ihrem öffentlichen Leben nun in ihrer hüllenlosen Intimität präsentiert werden? Die geborgenen, versehrten und ihres räumlichen Kontextes beraubten Denkmalkörper nun der Öffentlichkeit zu zeigen, birgt auch die Gefahr des Voyeuristischen. Bekanntlich kann auch aufklärerisch gemeinte „Entschleierung“ etwas Patriarchales, Gewalttätiges und Ikonoklastisches haben und die anmaßende Imagination einer personalen Verfügung über einen zur Sache gewordenen Körper stützen. Der Ausstellungstitel „Enthüllt“ spielt mit dieser Mehrsinnigkeit und das ist irritierend.
Die Denkmalfragmente zu präsentieren, ist natürlich richtig, nur nicht „enthüllt“, nackt und intim, sondern vielmehr anders „gewandet“, in einen veränderten öffentlichen Rahmen gestellt (des Dokuments, der Denkmalkultur einer Zeit), dem der Ausstellung in einem öffentlichen Museum. Dabei muss gerade die ästhetische Differenz untersucht und thematisiert werden, die sich aus der Dislozierung aus dem öffentlichen Stadtraum in einen musealen Raum ergibt. Es geht um die ganze Geschichte von Entstehung, Wirkung, Umdeutung und Demontage als Denkmal! Man wird sehen, wie die Ausstellungsmacherinnen und -macher es schaffen, eine charakteristische Präsentation zu wählen, die sich von den entfernten Verwandten vergleichbarer Sammlungen unterscheidet – dem klassischen Lapidarium archäologischer Grabungen (in der Nähe der Ursprungsorte); der Kuriositätenschau, dem Zoo und den Kolonialausstellungen; den (seinerzeit unzugänglichen) collective points geraubter Kunst nach Kriegsende (zur Rückgabe an die Eigentümer), den Beutekunstdepots einer Siegermacht und ihrer musealen Präsentation (ohne Rückgabe an die früheren Eigentümer) sowie den denunziatorischen Ausstellungen unliebsamer Kunst, den Denkmalparks gerade überwundener Despotien, oder eben des Kunstmuseums als dominant kanonischen Ort der ästhetisierten Tradition. Man könnte auch hier die These vertreten, dass das nun aufgerufene Medium der „kulturhistorischen Ausstellung“ nur dann trägt, wenn es selbstreflexiv ist, durch kontroverse diskursive Intervention, insbesondere auch durch aktuelle Kunst oder zumindest durch Konfrontation mit anderer Kunst derselben Zeit (wie gerade die bemerkenswerte Ausstellung im Hamburger Bahnhof „Die schwarzen Jahre“).
Gerade der Umgang mit dem Berliner Lenin-Denkmal wäre ein Gegenstand, die Mystifizierung von Denkmaldebatten aufzuklären. Es ist aber bemerkenswert, dass sich das Spandauer Projekt in der öffentlichen Berichterstattung weitestgehend auf die Aktualisierung und gleichzeitige Verdrängung des Mythos des Lenin-Denkmals gründet, statt gerade diesen Mythos zu dekonstruieren.

„Kopf hoch, Lenin! Abgerissen, begraben, auferstanden“

Unter dieser Überschrift veröffentlichte die Berliner Zeitung am 26. Mai 2015 eine Multimedia-Reportage von Anja Reich, Silvia Perdoni und Corinne Plaga über „Die unglaubliche Geschichte des Berliner Lenin-Denkmals“. Die Autorinnen sind keineswegs die einzigen, die den Umgang mit dem Lenin-Denkmal in der Sprache eines Wunders, der Wiederkehr eines Untoten, der Auferstehung eines gefallenen Helden beschreiben: „Lenins Kopf reist wieder“ hieß es bei n-tv und „Aus dem Köpenicker Exil nach Spandau. Genosse Lenin ist wieder da“ bei rbbonline. Als der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit im Sommer 2014 zögerte, die früher gegebene Zusage einzulösen, das im Seddiner Forst vergrabene Denkmal für die Ausstellung in der Zitadelle Spandau bergen zu lassen, wandte sich auch Gregor Gysi an Klaus Wowereit. Sein Argument: „Lenin darf man (…) nicht verbuddeln; man muss ihn zeigen und darf sich mit ihm auseinandersetzen.“ Meinte er Lenin oder sein Denkmal? Der Tagesspiegel vom 19. August 2014 schrieb Gysi den Erfolg des Umdenkens von Wowereit zu und titelte prompt: „Gysi buddelt Lenin aus“. Als Buhmann der Presse erschien allerdings zwischenzeitlich Landeskonservator Jörg Haspel, der sich für den „Zusammenhalt des Denkmals“, für die sachgerechte Bergung und Lagerung aller Denkmalblöcke stark gemacht hatte. Wie die Berliner Zeitung jedoch am 19. September 2014 klarstellte, war „die Entscheidung, Lenins Kopf vergraben zu lassen (ihn also zunächst nicht wieder auszugraben – d. A.), nicht im Landesdenkmalamt gefallen […], sondern von übergeordneter politischer Stelle“ gekommen. Haspel war eigentlich dafür eingetreten, das Lenin-Denkmal an seine alte Stelle zu stellen, um den Zusammenhang des städtebaulichen Ensembles mit dem Denkmal am heutigen Platz der Vereinten Nationen wieder verständlich zu machen. Die Rückkehr des Denkmals nach 25-jähriger Abwesenheit unter völlig veränderten gesellschaftspolitischen Bedingungen hätte eigentlich niemand als Restauration der DDR missverstehen können – wo schon der damalige Abriss weithin als ein Fehler bezeichnet wird, den man heute nicht wieder begehen würde. Aber selbst die aus denkmalpflegerischer Sicht wünschenswerte Aufstellung des Lenin-Denkmals in seiner Gesamtheit (Sockel und Figur), und sei es nun in der Zitadelle Spandau als zentraler Eyecatcher der Ausstellung, erscheint noch immer utopisch. Nur indem man sich auf „Lenins Kopf“ konzentrierte, schien die „Rückkehr Lenins“ politisch vertretbar. Doch keine Auferstehung als steinerne Figur – denn das erforderte ja einen Kopf auf Leib und Beinen. Wenn der abgetrennte Kopf also nicht das Denkmal ist, was ist er dann? Doch nur eine Trophäe, so wie Hitlers Schädel in Moskau? Nein, ein Exponat, wie der Zeithistoriker dem Denkmalhistoriker erklärte: „Lenin sei kein Denkmal mehr, ‚sondern ein Exponat, das ergänzt durch Multimedia zum Sprechen gebracht wird’“, zitierte die Berliner Zeitung vom 11. September 2015 den sonst so besonnenen Andreas Nachama. Multimedial reanimiert wird nun also der Granitkopf sprechen, nachdem er so lange auf dem öffentlichen Platz und im Waldboden schweigen musste. Was wird er uns wohl zu sagen haben? Vorsicht: Mit DADA kannte sich Lenin seit Zürcher Zeiten gut aus.

I don’t know why you say goodbye, I say hello

Nach der Groteske des postrevolutionären Denkmalsturzes 1991, der sich als Vollendung der friedlichen Revolution und als endgültiger Sieg über den Kommunismus inszenierte – der Kopf des „enthaupteten“ Despoten wurde dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen zu seinem 50. Geburtstag am 13. November 1991 dargeboten – hatte der Film „Good Bye, Lenin!“ (2001/03) in seiner Tragikomik Großartiges geleistet: den Abschied von der für unveränderlich gehaltenen Geschichte durch befreiendes Lachen. Völlig unverständlich, warum nun auf die öffentliche Überführung des wieder ausgegrabenen Kopfes der Lenin-Statue verzichtet wurde, auf ein distanziertes „Hello Lenin“ mit Blick zurück auf überstandene turbulente Zeiten und als Real-Dekonstruktion des Mythos. Doch der Senat legte großen Wert darauf, den „Kopf des Denkmals im September [2015] ohne großes Aufsehen“ auszugraben, wie die Berliner Zeitung am 31. Juli 2015 bemerkte. Eigentlich habe die Landesregierung sowieso nicht so viel damit zu tun, denn die 14 Millionen Euro für den Umbau der Zitadelle kämen ja vor allem aus dem EFRE-Programm, den Rest zahle Lotto und der Bezirk Spandau. Und so begrüßte CDU-Bezirksstadtrat Gerhard Hanke den Granitkopf albern mit „Herzlich Willkommen, Lenin“ auf der Zitadelle. (Berliner Zeitung vom 11. September 2015)
Als Hauptakteurin des unermüdlichen Kampfes um die Bergung des Lenin-Kopfes und für dessen Präsentation als Hauptattraktion der Ausstellung darf sich nun Projektleiterin Andrea Theissen fühlen. Judith präsentiert den Kopf des Holofernes auf der rechten Seite liegend, entgegen den Empfehlungen der Landesdenkmalpflege nicht als Grabungsfund mit den Halterungsbügeln der Bergung und mit Resten märkischen Sandes, sondern gereinigt und auf einem 18 Zentimeter hohen Podest, dem Tablett.
Denkmalstürze, die Enthauptung von Statuen und Menschen sowie die Präsentation der Häupter Ermordeter sind heute zum allgemeinen Schrecken keine entfernte Vergangenheit mehr. Die Geschichte des Umgangs mit dem Lenin-Denkmal (wie auch der anderen in Spandau präsentierten Denkmäler) bietet gewiss Material für die eigene historische Vergewisserung vormoderner Praktiken, gekoppelt an pseudo-aufklärerische Rhetorik. Mal sehen, ob das auf der „Geschichtsinsel Zitadelle“ mehr als ein Flirt mit der eigenen Geschichte wird. Die Chance dazu immerhin besteht.

Aus: kunststadt | stadtkunst 63/2016. Gekürzt und übernommen mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Thomas Flierl, von 2002 bis 2006 Berliner Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur, ist freiberuflicher Bauhistoriker und Publizist.