19. Jahrgang | Nummer 2 | 18. Januar 2016

Der Jakobsweg – auf den Spuren einer Legende

von Hubert Thielicke

Wieder einmal geriet der Jakobsweg, auf Spanisch „Camino de Santiago“, in das Schlaglicht der Öffentlichkeit, erneut einem ernst gewordenen Humoristen geschuldet. Nachdem Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“ das Interesse der Deutschen am Pilgern in Spanien weckte, immerhin soll die Auflage inzwischen bei etwa fünf Millionen liegen, führt nun der Film Pilgerschaft, Land und Leute am Jakobsweg auch optisch vor. Natürlich, Buch und Film sollen unterhalten, müssen ihre Stories erzählen, die nicht immer der Realität des Weges entsprechen, aber immerhin die Sache interessant machen.
Der unvoreingenommene Beobachter fragt sich natürlich: Warum nehmen die Pilger von heute hunderte Kilometer zu Fuß auf sich? Warum erdulden sie Wind und Wetter, Fußschmerzen, die Übernachtung in mitunter gewöhnungsbedürftigen Herbergen? Sicher, nach wie vor sind es bei vielen religiöse oder auch spirituelle Gründe. Es geht um Selbstfindung und Entschleunigung, die Lust am Wandern, das Gruppenerlebnis und die Kommunikation mit den Pilgern aus aller Welt. Für immer mehr Menschen sind es solche nichtreligiösen Gründe, die sie zum Aufbruch veranlassen, wie auch das Interesse an Landschaft, Kultur und Geschichte der durchwanderten Orte und Regionen.
Begonnen hat alles mit dem Camino primitivo – dem Ursprünglichen Jakobsweg, der von Oviedo, der Hauptstadt Asturiens, über das Kantabrische Gebirge nach Santiago de Compostela führt. Bereits vor etwa 1.200 Jahren soll der asturische König Alfons II. der Keusche (791-842) diesen Pfad gezogen sein. Zu Beginn des 9. Jahrhunderts – so die Legende – habe ein Eremit nachts eine Lichterscheinung gesehen, die auf ein Apostelgrab hindeutete, worauf der von ihm herbeigerufene Bischof Theodemir von Iria Flavia einen Sarkophag mit menschlichen Überresten fand, die er sofort als die des Jesus-Jüngers und Märtyrers Jakobus deutete. Der hätte, bevor ihn 44 n.Chr. König Herodes Agrippa I. von Judäa köpfen ließ, in Spanien missioniert, was allerdings nicht belegt ist. Ehemalige Weggefährten hätten seine Überreste dann in die Gegend gebracht und begraben. Da Sterne dem Eremiten und seinem Bischof den Weg gewiesen hätten – eine Metapher, die man schon aus der Bibel kennt – wurde die Gegend dann auch Santiago de Compostela genannt: Heiliger Jakobus vom Sternenfeld.
Die Sache ist aber offensichtlich viel prosaischer: Wahrscheinlich gab es in der Gegend aus den Zeiten, als die Iberische Halbinsel zum Römischen Reich gehörte, eine Nekropole, auf die dann eben der Eremit und Bischof einige hundert Jahre später stießen. Friedhof heißt auf Latein compostum, was auch eine mögliche Erklärung für „Compostela“ sein könnte. Jedenfalls wurde damals eine Legende geboren, die das Ansehen des Königreiches Asturien in der damaligen christlichen Welt stärkte und dann auch einen durchaus reellen politischen Hintergrund bekam: Die jungen spanischen Königreiche am Rande der Pyrenäen begannen allmählich mit der Rückeroberung der südlich gelegenen Ländereien – der Reconquista. Ein zugkräftiges Idol im Kampf gegen die muslimischen Mauren kam da gerade recht. Die hatten zu Beginn des achten Jahrhunderts den größten Teil der Iberischen Halbinsel erobert. Unter dem Banner des „Matamoros“, Jakobusʼ des Maurentöters, schoben die christlichen Teilstaaten ihre Grenzen nun immer weiter nach Süden vor.
Jedenfalls machte Bischof Theodemir die Sache publik und die Pilgerschaft konnte beginnen. Seinen Sarkophag kann man übrigens heute noch in der Kathedrale von Santiago de Compostela bewundern, unweit vom Jakobus-Schrein, dem Mittelpunkt der Heiligenverehrung in der Kathedrale. Der genannte „keusche“ König Alfons ließ damals ein Kirchlein errichten, das jedoch bald zu klein war, da das umliegende ursprüngliche Dorf rasch zur Stadt mutierte, so dass ein weiterer König Alfons, der dritte seines Zeichens, eine größere Kirche baute. Doch 997 schlug deren Stunde – al-Mansur, Wesir und Heerführer des Kalifen von Córdoba, zerstörte Stadt und Kirche. Aber der Pilgerbetrieb florierte schon bald wieder, Stadt und Kirche erblühten neu. Und wieder war es ein Bischof, genauer gesagt Diego Gelmirez, Anfang des 12. Jahrhunderts erster Erzbischof von Santiago de Compostela, der nicht nur weiter an der Jakobus-Story strickte, sondern auch den Bau der neuen, riesigen Kathedrale im Zentrum der Stadt forcierte. Um den Preis beträchtlicher Geldgeschenke erreichte er bei Papst Calixt II. (1119-1124) die neue Würde, inclusive der Unterstellung der Bistümer von Coimbra, Salamanca und Avila. Das Geld kam schnell wieder in die erzbischöflichen Kassen, denn aufgrund des Pilgerbetriebs gehörte die Diözese zu den reichsten der Halbinsel. Diego war nicht nur ein machtbewusster Kirchenfürst, er dachte eben auch wirtschaftlich und setzte alles daran, das Image von Santiago als Wallfahrtsort von europäischem Rang neben Rom auszubauen, ein durchaus PR-bewusster Mann, würden wir heute sagen. Es gab nur einen Nachteil: Die Stadt lag im Nordwesten, am äußersten Ende der Iberischen Halbinsel, war aufgrund dieser Randlage nicht nur dort, sondern erst recht von Europa aus nur schwer zu erreichen. Andererseits hatten die Königreiche Kastilien-Leon und Navarra sowie die aragonesischen und katalanischen Fürstentümer im Zuge der Reconquista die Mauren weiter zurückgedrängt, so dass sich nun ein weniger beschwerlicher Weg als der über das Kantabrische Gebirge eröffnete – die alte Römerstraße von den Pyrenäen über Pamplona, Burgos und Leon, also der Camino francés, der Französische Weg. Geschickt nutzte Erzbischof Diego die Mittel der PR. Denn nicht zuletzt wohl unter seinem Einfluss entstand eines der ersten Pilgerbücher – das Liber Sancti Jacobi (Jakobsbuch), nach dem erwähnten Papst auch Codex Calixtinus genannt. Es enthält Legenden über den Apostel,  liturgische Elemente und Erzählungen über Karl den Großen, der als erster Pilger apostrophiert wird, und beschreibt schließlich den Weg aus Frankreich zum Wallfahrtsort – der erste Pilgerführer sozusagen. Detailinformationen zum Weg könnte das Buch dem französischen Mönch Aymeric Picaud verdankt haben, der im Jakobsbuch genannt wird und das Werk nach Santiago gebracht haben soll. Immerhin wurde die Jakobslegende zu einer der öffentlichkeitswirksamsten des Mittelalters, zog jedes Jahr tausende Pilger in die Stadt. Viele Pilger setzten ihren Weg bis zum „Ende der Welt“ fort, nach Finisterre – dem finis terrae der Römer, einer schmalen Halbinsel am Atlantik, die schon in vorrömischen Zeiten Kultstatus hatte.
Nicht zu übersehen ist, dass der Weg zu einem beträchtlichen kulturellen und wirtschaftlichen Austausch zwischen Westeuropa und der Iberischen Halbinsel führte. Die Orte entlang des Jakobsweges wurden ausgebaut und neue angelegt. Noch heute zeugen insbesondere die wunderbaren romanischen Kirchen in den Orten am Wege davon.
Doch im 16. Jahrhundert schien der Camino buchstäblich am Ende zu sein. Nachdem die Humanisten bereits Mythen und Legenden der katholischen Kirche angezweifelt hatten, führte die Reformation zur offenen Kritik. Luther sprach davon, in Santiago de Compostela könnte wohl ein Hund begraben sein.
Auch die Kriege zwischen Spanien und Frankreich trugen das Ihre zum Abnehmen der Pilgerscharen aus Europa bei. Schließlich verschwand auch noch die Hauptreliquie – in Erwartung eines Angriffes der englischen Flotte unter Francis Drake versteckte man 1589 den Jakobus-Schrein so gut, dass er erst 1879 wiedergefunden wurde. Das Franco-Regime leitete schließlich eine Wiederbelebung des Mythos um den Nationalpatron Spaniens ein. Die Öffnung des Landes nach dem Tode des Diktators und der Beitritt zur EG 1987 trug dann auch zu größerem Interesse am Camino bei, den die UNESCO 1993 zum Weltkulturerbe erklärte.

Wird fortgesetzt.