18. Jahrgang | Nummer 16 | 3. August 2015

Griechenland – der Grexit wird vertagt

von Ulrich Busch

Erhard Crome und Stephan Wohanka haben Recht: Die griechische Tragödie, die gegenwärtig in Europa aufgeführt wird, ist ein politisches Stück, zudem ein ziemlich brutales und schauriges. In ihm geht es aber um Kredite und Zinsen, um Verträge, Währungen und Garantien. Insofern ist es vor allem ein ökonomisches Drama, auch wenn seine Folgen weit über die wirtschaftliche Sphäre hinausgreifen.
Bleiben wir bei der Ökonomie: Von Maurice Levi stammen wichtige „Grundsätze der ökonomischen Logik“ – unter anderem das Prinzip, „in Gleichgewichten“ und „in Kreisläufen“ zu denken. Beides lässt sich auf Griechenland und auf die griechische Problematik anwenden, zum Beispiel auf die Einnahmen und die Ausgaben des Staates, der Unternehmen und der privaten Haushalte: In einfachster Betrachtung bestimmen und limitieren die Einnahmen jeweils die Ausgaben. So sieht es jedenfalls die schwäbische Hausfrau. Kreislauftheoretisch aber sind die Einnahmen des einen immer die Ausgaben des anderen. Insofern stimmt auch der umgekehrte Satz, wonach die Ausgaben die Einnahmen bestimmen. Sieht man das Ganze in Raum und Zeit, so kommen zusätzlich temporäre Inkongruenzen ins Spiel, also das Sparen und Borgen. Danach bedingt die Verschuldung der einen das Sparen der anderen – und umgekehrt. Volkswirtschaftlich gilt der Ausgleich. Ebenso bedingen höhere Ausgaben in der Gegenwart geringere in der Zukunft – und umgekehrt. Über die Zeit hinweg gilt aber das Gleichgewicht.
Soweit die Theorie. Sie erklärt, warum die Ausgaben mal höher und mal geringer sein können als die Einnahmen sowie dass Sparen und Borgen von Vorteil sind und ökonomisch völlig normal.
In der Praxis hingegen gibt es hier einige Schönheitsfehler, die das Ganze unübersichtlich machen, ohne dass jedoch dadurch die funktionale Grundkonstruktion einer Volkswirtschaft aufgehoben wird. Ein Beispiel dafür ist die Staatsverschuldung. Diese bedeutet ja zunächst nichts anderes, als dass der Staat mehr ausgibt, als er einnimmt. Anstelle fehlender Steuereinnahmen erfolgt eine Kreditaufnahme. Dabei handelt es sich um eine „außerordentliche Einnahme“ – im Unterschied zu den Steuern als ordentliche Einnahmen. Der Staat kann so handeln und muss dies wegen des volkswirtschaftlichen Gleichgewichts sogar, solange andere weniger ausgeben, also sparen. In Deutschland ist dies der Fall und ist die Staatsverschuldung mithin auch kein Problem, auch dann nicht, wenn sie niemals wieder zurückgeführt wird, sondern die alten Kredite bei Fälligkeit immer wieder durch neue ersetzt werden.
Warum aber wurde dieser Sachverhalt in Griechenland zu einem unlösbaren und sogar die Existenz des Staates gefährdenden Problem?
Erstens, weil hier nicht der Staatshaushalt bei den privaten Haushalten oder Unternehmen des Landes verschuldet ist, so dass volkswirtschaftlich ein Ausgleich gegeben wäre, sondern weil alle verschuldet sind, der Staat, die Unternehmen und die Bevölkerung, und zwar gegenüber dem Ausland. Dies führte zu einem bilanziellen Ungleichgewicht, das von einer bestimmten Höhe an nicht mehr tragbar ist, da es die Volkswirtschaft destabilisiert. Das war in Griechenland schon 2009 der Fall, als die Wirtschaft in der Krise einbrach und der Schuldenstand die 120-Prozent-Marke, gemessen am BIP, überstieg. Neue Kredite waren unter diesen Bedingungen am Kapitalmarkt nur noch zu extrem hohen Zinsen zu bekommen. Dadurch eskalierte das Schuldenproblem. Zugleich kam es zu illegalen Finanzabflüssen, allein im Jahr 2009 in Höhe von 40,5 Milliarden Euro, die sich bis 2015 auf mehr als 300 Milliarden Euro summierten, wodurch dem Staat Kapital und Steuereinnahmen in Größenordnungen verloren gingen.
Zweitens, und das ist eine neue Erfahrung, erfolgte die Verschuldung nicht in heimischer Währung, denn eine solche gibt es seit 2001 nicht mehr, sondern in Euro. Emittent ist die EZB, eine für Griechenland „fremde Macht“.
Drittens kann Griechenland den Schuldendienst folglich nur in Euro leisten, wofür es entsprechende Einnahmen braucht und woran auch ein Austritt aus der Euro-Zone nichts ändern würde. Der Bedarf an Devisen bliebe unter allen Umständen bestehen, es sei denn, die Gläubiger würden auf ihr Geld verzichten.
Viertens impliziert die aufgelaufene Verschuldung, dass der griechische Staat und die Volkswirtschaft (auch die Unternehmen und die Bevölkerung) bisher über ihre Verhältnisse gelebt haben, so wie Deutschland seit Jahren unter seinen Verhältnissen lebt. Im Falle Griechenlands führte dies zu einer immer weiter steigenden Auslandsverschuldung; im Falle Deutschlands zu gigantischen Auslandsforderungen. Beides steht für ein volkswirtschaftliches Ungleichgewicht, das es im Interesse der globalen Stabilität abzubauen gilt. Für Griechenland ist die Botschaft inzwischen klar, für Deutschland eher nicht. Strittig jedoch sind die Wege dahin.
Da Griechenland von selbst nicht aus der Misere herausfindet, sondern sich seit 2010 immer tiefer in die Verschuldung hineinmanövriert hat, wurden jetzt die Gläubiger aktiv. Und damit beginnt die eigentliche Tragödie, die alles Bisherige als bloßes Vorspiel erscheinen lässt: Statt dafür zu sorgen, dass die griechische Volkswirtshaft durch umfangreiche Investitionen aus der Verschuldung herauswachsen kann, wird dem Land über eine extreme Austeritätspolitik ein Ausgaben-Schrumpfungsprogramm verordnet. Mit den Ausgaben aber sinken die Einnahmen. Nur so, wie wir wissen, schließt sich der volkswirtschaftliche Kreislauf. Dieser aber nimmt nun die Gestalt einer sich abwärts drehenden Spirale an – mit all ihren schrecklichen Folgen für die Bevölkerung. Der Berliner Historiker Herfried Münkler sieht Griechenland bereits auf dem Weg zur Transformation in ein „Dritte-Welt-Land“. Da ist es so ziemlich egal, welche Regierung gerade an der Macht ist. Um die Logik dieser, nun nicht mehr selbst verschuldeten, sondern von den Gläubigern diktierten Abwärtsspirale zu durchbrechen und umzukehren, bedarf es externer Kapitalzuflüsse und zukunftsweisender Investitionen. Dafür aber fehlt – nach fünf Staatsbankrotten seit 1829 – das Vertrauen in die griechische Volkswirtschaft und in einen Staat ohne funktionierenden Fiskus sowie ohne eine aussagefähige Statistik, dafür aber mit einer rückständigen, kaum wettbewerbsfähigen Wirtschaft mit wenig Exportpotenzial. Es mangelt in der Europäischen Union aber offenbar auch an der Bereitschaft, Griechenland wirksam zu unterstützen und dabei alternative Wege zur Sparpolitik einzuschlagen.
Die Überbrückungskredite sichern Griechenlands Liquidität bis August. Ein drittes Kreditpaket von circa 85 Milliarden Euro verhilft dem Land zu einem Verbleib in der Eurozone bis etwa 2018.
Der Grexit wird dadurch um drei Jahre hinausgeschoben. Das ist besser als ein sofortiger Austritt. Aber um welchen Preis?!

Dieser Text wurde bereits am 15. Juli abgeschlossen, gelangte infolge einer redaktionellen Panne aber leider nicht in die letzte Ausgabe. Der Fortgang der Ereignisse seither ist daher nicht berücksichtigt. Wir bitten um Pardon! – Die Redaktion.